Alles ist noch zu wenig

Katja Schönherr

Arche, August 2022

320 Seiten, € 23,00

 

 

 

 

 

Inge Ruck ist vierundachtzig Jahre alt und seit einigen Jahren Witwe. Sie lebt in dem kleinen Kaff Munßig im Osten Deutschlands, anderhalb Stunden von Berlin entfernt und liegt mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus, nachdem sie in der Nacht bei ihren häufigen Wanderungen zur Toilette auf der Treppe der ersten Etage ins Erdgeschoss gefallen ist.

Natürlich ist das letztlich die Schuld ihres jüngsten Sohnes Carsten, der in Berlin lebt und dem sie schon lange in den Ohren damit liegt, dass er ihr Schlafzimmer verlegen soll. Inge steht kurz vor ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus und ordert ihren jüngsten Sohn aus Berlin zu sich, damit er sie erst in ihren körperlichen Einschränkungen unterstützen soll, ihr eigentliches Ziel ist es jedoch, dass er zu ihr zieht. Inge ist von einer Selbstverständlichkeit der Meinung, dass es die Aufgabe ihrer Kinder ist, sich jetzt um sie zu kümmern. Da sie von ihrem Sohn Jens, der zwei Jahre älter ist als Carsten, schon lange nichts mehr gehört hat und er zudem seit vielen Jahren in den USA lebt, bleibt ihr Lieblingssohn Carsten übrig, den sie nun mit der bevorstehenden Pflege in die Pflicht nimmt. Der sensiblere Jens musste schon als Kind unter der erniedrigenden Bevorzugung seines jüngeren Bruders durch seine Mutter und auch seinem Vater leiden und Carsten hat durch dieses Beobachten schon früh gelernt, wie er seinen älteren Bruder kränken und bloßstellen konnte.

„Nenn Deinen Bruder nicht >Dummkopf<, sagte sie.                                                                Aber er ist nun mal einer.                                                                                                               Das musst Du ihm aber nicht sagen. Du weißt genau, wie empfindlich er ist.“                        (Auszug aus dem Buch, Seite 76)

Ein Umgang, der sich auch im Älterwerden nicht ändern sollte.

 Als Jens – Mitte zwanzig war er damals – zu ihr und Richard sagte, dass er Männer lieber möge, schüttelte Inge vehement den Kopf und sagte „Papperlpapp!“ So etwas wolle sie überhaupt nicht hören. Bei der Mühe, die sie seine Erziehung gekostet habe, wäre das ja ein schöner Dank. Richard sagte gar nichts. Er schaltete seinen neuen Fernseher ein, hob die Fernbedienung an wie eine hochmoderne Waffe und zielte damit auf das rote Lämpchen am TV-Gerät. (…) Als Jens den Raum verließ, rief ihm Richard hinterher: „Reiß Dich einfach zusammen!“                                                                                              (Auszug aus dem Buch, Seite 78)

Carsten, Mitte Vierzig, geschieden, nur mit häufig wechselnden, kurzen Liebschaften liiert, fühlt sich beruflich als Marketingleiter für ein Firma für Gefrierbeutel und Aluminium- und Frischhaltefolien reichlich unmotiviert am Ende seiner Karriere. Wenn er in Verantwortung gezogen wird, sei es von seiner Exfrau oder als Vater, gibt er eine wichtige Geschäftsreise nach Brüssel vor und entzieht sich. Das macht er allerdings im Laufe der Zeit mit einer Häufigkeit, dessen Vorspiel ihn bei den Betroffenen durchschaubar gemacht hat. Da Carsten sich alleine nicht stark genug fühlt, gegen die lebenslangen Mäkeleien und Besserwisserei seiner Mutter anzukommen und ihr jetzt unter die Arme zu greifen, nimmt er sich zur Verstärkung seine pubertierende Tochter Lissa mit. Lissa ist froh, in den Sommerferien ihre Mutter und deren Freund entfliehen zu können. Sie hat, typisch für ein Pubertier, eine Wut und einen Hass auf vieles: auf SUV-Fahrer, auf fleischessende Menschen, auf den Freund ihrer Mutter – und auch auf ihren Vater.

Lissa mag ihre Oma und das Leben in dem kleinen Kaff, dass so ganz anders ist als das in Berlin, weil nämlich dort absolut nichts los ist. Früher hat sie viele Ferien hier verbracht und die wilde Freiheit genossen. Doch bei den letzten Besuchen war schon eine wachsende Distanz zwischen der Oma und ihr zu spüren, Lissa ist immer weniger von dem kleinen Kaff begeistert und die Oma sieht in ihrer Enkelin mittlerweile nur kopfschüttelnd ein Großstadtgewächs. Lissa ist eine kritische Beobachterin, die mit ihren Sichtweisen verbal nicht hinter dem Berg hält und als Veganerin einen zusätzlichen schweren Stand bei Inge hat, die wiederum weder Diplomatie noch Nachsicht kennt.

Für Inge, Carsten und Lissa beginnen harte, anstrengende Wochen im heruntergekommenen Haus, in denen sie miteinander auskommen müssen. Als Lissa ihrer Oma das Versprechen abnimmt, dass sie nicht in ein Pflege-/Altersheim abgeschoben wird, gerät sie in einen familiären wie moralischen Konflikt mit ihrem Vater.

Katja Schönherr hat ihre unterschiedlichen Figuren mit einem ausgezeichneten und tiefgründigen Blick auf die verschiedenen Generationen herausgearbeitet. Sie erzählt mit einem ironischen, teilweise bitter-bösen Witz, ohne dabei zu überziehen oder in Klischees zu verfallen. Dabei stellt sie Großstadtleben und Leben in einem kleinen Kaff gegenüber und das jeweilige Unverständnis bei mangelnder Tolreanz über das Leben in der anderen Dimension. Die Autorin beschreibt akzentuiert das Kriegskind Inge und ihre Sprach- und Gefühlslosigkeit, ihren Umgang mit ihrem bereits verstorbenen Ehemann, wie sie den jüngeren Sohn Carsten dem zwei Jahre älteren Jens mit vielen Demütigungen vorgezogen hat und warum dieser aus nachvollziehbaren Gründen den Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen hat.

Mit lakonischen Beschreibungen beleuchtet Katja Schönherr die Konflikte zwischen den einzelnen Familienmitgliedern und den generationenbedingt unterschiedlichen Eltern- und Kind-Verhältnissen, die in irgendeiner Form sicher in nicht wenigen Familien ähnlich wiedererkennbar sind. Hinter diesem tiefblickenden familiären Beziehungsgeflecht steht die Frage, inwieweit Kinder ihren Eltern etwas schulden. Mit dieser Frage setzt sich insbesondere Lissa auseinander, die das Buch „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ von Barbara Bleisch, (erschienen 2018 bei Hanser) liest und gerne mit ihrem Vater darüber diskutieren möchte, dieser aber den Versuch schnell wegwischt, weil er sich dann ja mit sich selber auseinander setzen müsste.

Während Barbara Bleisch die Schuld-Frage Frage philosophisch untersucht, präsentiert Katja Schönherr mit diesem fein herausgearbeiteten Familienkonstrukt ein plastisches, lebendiges und nachvollziehbares Beispiel, warum Eltern sich im Alter und bei Gebrechen nicht grundsätzlich auf ihre Kinder verlassen sollten.

Das Cover fällt zwar auf, der Bezug zur Geschichte ist aber sehr frei interpretierbar.    Leider haben die verschiedenen Lektoratsdurchgänge einige grobe Rechtschreibe- und inhaltliche Fehler übersehen.

Sabine Wagner

 

 

 

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