Kangal

Anna Yeliz Schentke

S. Fischer Verlag, März 2022

208 Seiten, € 21,00

Nominiert auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2022

 

 

 

Kangal ist der Name für einen in der Türkei verbreiteten Hirtenhund und unter dem Pseudonym Kangal1210 ist Dilek in Istanbul als Oppositionelle gegen „den, der keinen Namen braucht – Ismi lazım değil  im Internet unterwegs. Da sie in ihrem Heimatland deswegen nicht mehr sicher ist, flüchtet Dilek nach einem brutalen Übergriff gegenüber zwei lesbischen Freundinnen, bei der eine ein Auge verliert und die andere inhaftiert wird, nach Deutschland zu ihrer Cousine Ayla, die dort geboren und aufgewachsen ist. Als sie Kinder waren, war Dilek in den Ferien oft mit ihrer Mutter bei Ayla zu Besuch, doch irgendwann haben sich die beiden Mütter so zerstritten, dass kein weiterer Besuch mehr folgte. Den Grund für diesen Streit hat Dilek trotz Nachfragen bis zum Tod ihrer Mutter nie von ihr erfahren.

Die in Deutschland geborene und lebende Ayla  zieht hier gerade aus der gemeinsamen Wohnung mit ihrem Freund Yusuf aus, nachdem er sie zum zweiten Mal geschlagen hat. Ihre Eltern haben dafür nicht wirklich Verständnis: „Du willst also lieber ohne Mann sein als mit ihm?“. Lange verheimlicht sie ihren Eltern ebenso, dass sie schon lange studiert und nebenher arbeitet. Die politische Situation der Türken in der Türkei und in Deutschland interessiert Ayla nicht wirklich, zuhause wird darüber geschwiegen.

Tekin ist Dileks Freund in der Türkei und wie sie ein Gegner der türkischen Politik. Er hat allerdings kein Verständnis dafür, dass Dilek ohne ein Wort des Abschieds nach Deutschland abgehauen ist und findet ihre Flucht übertrieben. Er versucht mit einer befreundeten Anwältin herauszufinden, ob etwas „offizielles“ gegen Dilek vorliegt, denn er ist davon überzeugt, dass sie ihren Widerstand gegen das Regime mit paranoider Übertreibung beantwortet. Tiken ist hin und hergerissen zwischen seinen ambivalenten Gefühlen gegenüber Dilek und seiner Einstellung zum oppositionellen Kampf gegen die Regierung.

Anna Yeliz Schentke verbindet die drei unterschiedlichen jungen Leben zwischen Türkei und Deutschland in kurzen Kapiteln, in denen jede Figur ihre Gedanken und Betrachtungsweise beschreibt. Dabei verschmelzen die Perspektiven miteinander, einzelne begonnene Erzählstränge werden von der nächsten Figur weitererzählt oder auch widersprochen. Der Mittelpunkt dieses Trios ist Dilek, die mit ihrer unauffälligen, aber so eindeutig klaren wie furchtlosen Stimme von ihrem Kampf gegen die Unterdrückung, dem ekelhaften Denunziantentum, der Verfolgung von Randgruppen und der politischen Entwicklung seit dem Putschversuch 2016 in ihrer Heimat erzählt.

Die Autorin lässt ihre Figuren in einer knappen, nüchternen Sprache erzählen, die mit ihrer kritischen Betrachtung über das politische wie gesellschaftliche, familiäre türkische Leben in der Türkei und in Deutschland einerseits betroffen macht, andererseits erstaunt, weil man es so offen nur selten liest. Dieses schmale Buch hat eine intensive Wucht mit einem reduzierten, auf den Punkt gebrachten Ton der drei jungen Menschen, die aus unterschiedlichen Sichtweisen von der Sehnsucht nach Freiheit, Sicherheit und unkontrollierten Leben in einem friedlichen, demokratischen Heimat-Land erzählen.

Dilek (Seite 53): „Morgen beginnt der Sprachkurs. Was, wenn dort Türken sind? Von Deutschland aus wählen sie die Parteien, die mein Land zu einem gemacht haben, in dem man nicht mehr leben kann.“

Anna Yeliz Schentke ist 1990 in Frankfurt geboren und aufgewachsen und lebt dort auch heute. In Istanbul war sie zuletzt 2015. Ein mutiges Buch über unterschiedliche Sichtweisen von jungen Türken in ihrem Heimatland und in Deutschland lebend, ein aufwühlendes Buch über Unterdrückung, Verfolgung, Gewalt und Denunziantentum in einem Land, von dem viele hierzulande die politische Diktatur beim preiswerten all-inclusive in ihrem Ferien-Hotel vergessen.

Sabine Wagner

 

 

 

 

 

 

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