Nebenan

Kristine Bilkau

Luchterhand, 08.03.2022

288 Seiten, € 22,oo

Nominiert auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022 und für den Hamburger Literaturpreis 2022

 

 

 

Kristine Bilkau verortet ihren Roman „Nebenan“, der es auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2022 geschafft hat, in einem kleinen Dorf irgendwo am Nordsee-Ostsee-Kanal. Eine Kreisstadt in der Nähe, ansonsten viel Natur drumherum. Das ist der Ort, in dem Julia, Ende Dreißig, mit ihrem Freund Chris aus Hamburg in ein kleines Dorf aufs Land gezogen ist, um zur Ruhe zu kommen und in der Hoffnung, dass sich hier endlich ihr  heiß ersehnter Kinderwunsch erfüllt. Aber auch Astrid, die Anfang sechzig ist, führt in diesem Dorf schon viele Jahrzehnte ihre Arztpraxis und lebt hier mit ihrem Mann Andreas in einer langen, vertraut-liebevollen Ehe. Ihre drei Söhne sind erwachsen und wohnen weit verstreut. Die dritte Hauptfigur ist Astrids Nachbarin Marli, die viele Jahre eine innige Freundschaft zu Astrid verbunden hat und deren Sohn mit ihren Söhnen aufwuchs. Nachdem Marlis Sohn vor Jahren als Mittäter von grausam getöteten Tieren verdächtigt wurde und vieles darüber nur an- aber nicht ausgesprochen wurde, gab es einen tiefen Riss in dieser ehemals engen Freundschaft und Marli verließ irgendwann das Dorf. Gerade jetzt ist sie zurückkehrt, was Astrid einerseits irritiert und andererseits freut, da sie hofft, dass sie damit die Chance für einen Neubeginn ihrer jahrelangen Freundschaft bekommt. Seit einiger Zeit erhält Astrid mysteriöse Drohbriefe, die sie zunächst verdrängt, doch mit jedem Brief wird sie ängstlicher. Und dann ist da noch Elsa, Astrids Tante, eine körperlich betagte, aber geistig immer noch wache und pfiffige ältere Dame, um die sich Astrid liebevoll kümmert.

Eines Tages verschwindet eine Familie mit ihren Kindern von heute auf morgen, ohne Abschied und ohne jedes vorherige Signal, aus dem Dorfidyll. Das verwaist hinterlassene Haus beschäftigt die einzelnen Figuren jeweils auf ganz eigene Weise. Als dann noch ein Kind im Garten der verschwundenen Familie auftaucht und eine geheimnisvolle Nachricht hinterlässt, aber unerkannt wieder verschwindet, sind der Gerüchteküche Tür und Tor offen gestellt.

Unter diesem Hintergrund spinnt Kristine Bilkau ein intensives Beziehungsgeflecht zwischen diesen unterschiedlichen (weiblichen) Charaktere zusammen, die sich, jeder auf seine Weise und in unterschiedlichem Umfang, Gedanken um die verschwundene Familie machen. Die Autorin arbeitet die verschiedenen Figuren und ihre jeweiligen Lebensläufe mit einer leisen, poetischen aber dennoch klaren Sprache und feiner Tiefe aus. Keine der Figuren ist „besonders“ interessant oder auffällig, sie alle könnten Nachbarn von „nebenan“ sein. Kristine Bilkau hat einen offenen wie klugen Blick für verschiedene große Lebensfragen in unterschiedlichen Altersstufen, aber auch für die Kleinigkeiten des Alltags und verbindet dabei Generationen. Fein beochachtet beschreibt die Autorin Unsicherheiten in scheinbar gefestigten Beziehungen und Zweifel daran, ob sie noch tragbar sind, eine Trennung besser wäre oder sie neu aufgenommen werden können: Julia und Chris, deren Beziehung durch den exessiven Kinderwunsch von Julia gefährdet ist, Astrid und Marli, deren lange Freundschaft durch Gerüchte und Unausgesprochenes getrennt wurde und sie sich behutsam verzuchen wieder anzunähern. Warmherzig erlebt man das Verhältnis zwischen Astrid und ihrer Tante Elsa, die zwar hochbetagt ein wenig tuttelig ist, aber sich ihres Zustandes und den Folgen absolut im Klaren ist und selbst für die Zukunft entsprechendes regelt.

Was die Figuren vereint, sind Sehnsüchte, Ängste, Zweifel und die Suche nach Geborgenheit, aber auch nach einer neuen Richtung auf dem Lebensweg – jede*r auf seine eigene Weise und aus anderen Gründen. Auf dieser Suche ziehen sie sich gerne schweigsam zurück, was die Sehnsüchte nicht kleiner macht, aber bei jedem nachvollziehbar – und für den Leser*in wiedererkennbar ist.

Es sind Menschen von nebenan, die auf der Suche nach Vertrauen in einen anderen Menschen sind, mit Geschichten über kleine und große Lebensfragen. Wunderbar erzählt, weil genau beobachtet und perfekt um die verschwundene Familie im Hintergrund miteinander verbunden.

Sabine Wagner

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