Mittnachtstraße

Frank Rudkoffsky

Voland & Quist, 15. September 2022

272 Seiten, Euro 24,00

 

 

 

 

Von Mittwoch bis Samstag begleiten wir Malte, 43 Jahre alt und frei arbeitender Journalist während des Corona-Lockdowns. Er lebt mit Frau Nathalie und seinen beiden Kindern in Stuttgart. Mittnachtstraße ist der Name einer S-Bahn-Haltestelle, die ihre Bedeutung im Laufe der Geschichte bekommt, nicht nur im Hinblick von Stuttgart 21.Die Ehe steckt in einer Krise und mit seinem pubertierenden Sohn Jonas hängt Malte ständig aneinander, der ihn als heuchlerischen Texter sieht, und oft fehlt ihm als Vater die Ruhe für die fünfjährige Nora, die sich nicht sehnlicher als ein kleines Haustier wünscht. Obwohl Malte ein engagierter Journalist ist und viele Jahre für ein Stuttgarter Stadtmagazin gearbeitet hat, fühlt er sich leer und ausgebrannt und fragt sich, woran das liegt. Aktuell übernimmt er die Elternzeit, da seine Frau mit einer Freundin gemeinsam eine eigene Apotheke eröffnet hat und sie vorher für ihn ihre Karriere zurückgesteckt hat. Malte fühlt sich von allem überfordert und sieht keine Erfolgserlebnisse, was ihn in eine Depression rutschen lässt.

Als eines Tages nach vielen Jahren ohne Kontakt sein Vater ihm gegenübersteht, kommen sofort die vielen Erlebnisse wieder hoch, die zu einem Kontaktabbruch geführt haben. Es dauert auch nur wenige Minuten, bis bei Vater und Sohn wieder die Fetzen fliegen und Malte seinen Vater hinauswirft. Malte flüchtet in die Kleingartenparzelle seines Vaters, die er schon in seiner Kindheit oft besucht hat. Diese Laube im Kleingartenverein ist nun für ihn der gleiche Ort, an dem sich Malte vor seiner Familie und seinem demenzkranken Vater flüchtet, wie früher sein Vater. Malte erkennt, dass er, wie sein Vater, unbeherrschte, cholerische Züge in sich trägt, die mit explodierenden Ausbrüchen seine Familie treffen. Malte schämt sich dafür, kommt aber nicht dagegen an und ergießt sich lieber in Selbstmitleid. Doch er weiß, wenn er sich nicht aus seiner Lethargie herauskämpft und seine cholerischen Ausfälle in den Griff bekommt, wird er seine Frau und Familienleben verlieren.

Frank Rudkoffsky beschreibt in seiner vielschichtigen Familiengeschichte das toxische Verhältnis zwischen Vater und Sohn und den Konflikt zwischen unterschiedlichen Generationen im Allgemeinen. Der Autor spielt mit Klischee-Bildern, beispielsweise mit dem Kleingartenverein und den „alten weißen Männern“, allen voran Heinz, der beste Freund von Maltes Vater, die als diktatorischen und rassistischen Herrscher die freie Gärten nur an die weitergeben, die in ihrem Sinne „gut“ sind. Dennoch erliegt Frank Rudkoffsky erfreulicherweise nicht der Gefahr, mit diesen Beschreibungen allzu sehr ins Klischee abzurutschen, indem er sie leicht überspitzt. Mit einem scharfsinnigen Blick skizziert der Schriftsteller seine Figuren und Beziehungen, begleitet von einem bissigen, zuweilen auch ironischen Unterton.

Was der Autor für mich wirklich gelungen transportiert, ist der Zwiespalt, in dem Malte sich zwischen nachvollziehbarer harter Ablehnung seines Vaters gegenüber und dem Bemühen, zu verstehen, warum er in der Vergangenheit sich so benommen und gehandelt hat. Heinz, der langjährige und beste Freund seines Vaters ist hier Maltes Korrektiv und er erfährt bis dahin ganz unbekannte, persönliche Sachen von Heinz und seinem Vater. Malte weiß im Laufe der Geschichte nicht nur mehr über seinen Vater, sondern er erkennt auch, warum dieser oft aufbrausend und unbeherrscht war und ist. Mit kleinen Schritten lernt Malte, Verantwortung für sein Tun, aber auch für seine Familie zu übernehmen. Der erste Schritt ist sein Versuch, der, durch die alteingesessene männliche Dominanz festgefahrene Kleinkrieg im Kleingartenverein seines Vaters zu befrieden. Malte wird sich aber auch bewusst, dass er Psychotherapie annehmen muss, um aus seinem Trauma herauszukommen und sich besser reflektieren zu können.

Die Stärke des Romans ist leider für mich auch gleichzeitig seine Schwäche. Frank Rudkoffsky packt zuviel an brisanten, aktuellen Themen in die vier Tage der Erzählung rein, die es in sich haben und nur angekratzt an der Oberfläche bleiben: Eine schwierige Vater-Sohn-Geschichte, in der es daneben auch um Corona, Rassismus, Aggression und Depression, Homosexualität, Ausgrenzung, der Stuttgarter Kleinkunst-Szene und eine offene Kritik an der städtischen Politik in Stuttgart  (u.a. Stuttgart 21) geht.

Auch wenn von allem etwas und damit insgesamt zu viel in dieser Familiengeschichte  gepackt wurde und die Annäherung zwischen Vater und Sohn am Ende mir zu harmonisch ist, bei allem Verständnis für die Demenz-Erkrankung, ist sie spannend zu lesen, weil unverkrampft offen das Thema einer toxischen Vater-Sohn-Geschichte präsentiert wird.

Das Cover ist prägnant und passt stimmig.

Sabine Wagner

 

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