Das Karussell

Klaus Kordon

Beltz & Gelberg, September 2012

456 Seiten, €  19,95

ab 14 Jahre

 

 

 

Bertie Lenz lebt, seitdem er sich erinnern kann, in einem Kinderheim. Liebe und Zuwendung gibt es nur selten, dafür Härte und Strenge und brutale Erziehung durch Lehrer und dem Pater Constantin. Bertie hofft, je älter er wird, immer mehr, dass seine Mutter, die ihn regelmäßig besucht, eines Tages mit nach Hause nimmt, wie er das bei einigen anderen Heimbewohnern erlebt. Doch als sie wieder ein Kind erwartet, eröffnet sie ihrem Sohn, dass sie ihn nicht zu ihrer neuen Familie mitnehmen kann, da ihr neuer Mann das nicht will. Bertie ist und bleibt ein Bastard und muss erkennen, dass seine Mutter nicht hinter ihm steht. Eines Tages besucht seine Mutter ihn mit Greta, seiner kleinen Halbschwester. Sie schenkt ihm ein Spielzeugkarussell, das schönste und wertvollste, was er jemals bekommen hat und es wird Berties größter Schatz. Er macht eine Maurerlehre und als er mit 18 Jahren endlich aus dem Waisenhaus entlassen wird, sucht er den Kontakt zu Greta, was für die junge Frau mit Komplikationen verbunden ist, denn sie steht zwischen ihrer Mutter und ihrem Halbbruder. Parallel zu Berties Geschichte wird das Leben von Lisa Gerber erzählt, die mit ihrer Mutter und ihren Schwestern eine Gastwirtschaft betreibt. Schon früh ist es Lisa gewohnt hart zu arbeiten, als die Mutter sich dazu entschließt, das Elternhaus zu verkaufen und in einem kleinen Städtchen eine Gastwirtschaft zu eröffnen. Da das Gasthaus hervorragend läuft, traut sich die Mutter in die Großstadt und eröffnet in Berlin-Steglitz eine neues. Doch der neue Start steht unter keinem guten Stern, denn es ist Herbst 1922 und die Inflationskatastrophe erst im Anfang. Georg John, genannt der dicke Schorsch, unterstützt die Gerbers, nicht zuletzt weil er sich in Lisa verliebt hat. Liesa ist sich allerdings nicht sicher, ob es wirklich Liebe ist, was sie für den dicken Georg empfindet. Georg bleibt hartnäckig und schließlich lässt sich Lisa auf eine Liebe zu dem kuscheligen Teddybären ein. Die beide heiraten und eröffnen eine eigenes Gasthaus. Zunächst läuft auch alles gut, doch Georg beginnt zu trinken, verändert sich immer mehr und stirbt bald darauf an einer schlimmen Nervenkrankheit. Lisa muss nun alleine für ihre Kinder und die Gaststätte sorgen, Georgs Schwester Lucie als einzige Unterstützung. Zu diesem Zeitpunkt trifft sie ein zweites Mal auf den jüngeren Bertie Lenz, den sie vor einiger Zeit mit einer List vor der SA gerettet hat. Bertie ist fasziniert von der starken Lisa und auch Lisa findet Gefallen an dem gut gebauten jungen Bertie, der ihr eine Schulter zum Anlehnen bietet. Obwohl alle anderen glauben, dass diese Liebe glücklich wird , fühlen und wissen die beiden es besser. Aber ihre Liebe wird auf eine harte Probe gestellt, denn der Zweite Weltkrieg nimmt alle gefangen.

Klaus Kordon gehört zu den ganz großen Schriftstellern – und nicht nur für Jugendliche – , wenn es um lebendige Nacherzählung deutscher Geschichte geht. Sein neuer Roman „Das Karussell“ ist die Vorgeschichte zu dem Buch „Krokodil im Nacken“ (Beltz & Gelberg, 2010, 7. Auflage), und lässt die Kindheit und Jugend seiner Eltern aufleben sowie ihre gemeinsame Zeit. Kordon lässt über zwanzig Jahre deutscher Geschichte Revue passieren und das in so lebendiger Weise, wie man es nur selten liest. Man hört und riecht förmlich das Berlin seinerzeit, hört die Droschkenkutschen und das Stimmengewirr in den Kneipen. Die szenenischen Beschreibungen sind eine große Stärke des Autors, denn wie in einem Film spielt sich in einer in einer bilderreichen Sprache die Handlung vor den Augen des Lesers ab. Kordon gibt nicht nur der Umgebung eine starke und nachvollziehbare Atmosphäre, er baut auch seine Figuren sorgfältig und mit einer intensiven Tiefe aus. Dabei recherchiert er sehr genau, selbst Kleinigkeiten werden treffend und liebevoll eingebaut. Man merkt diesem Roman an, dass die Nacherzählung der Geschichte seiner Eltern für Klaus Kordon nicht eine beliebiges Geschehen ist sondern eine persönliche Herzensangelegenheit. Obwohl der Autor seine Mutter bereits mit dreizehn Jahren verloren und seinen Vater nie kennengelernt hat und daher nur aus spärlichen Erinnerungen schöpfen kann, schafft er nicht irgendwelche Protagonisten sondern echte, lebendige Figuren. Auch wenn sie aus einer anderen Zeitepoche stammen, hat man schnell das Gefühl, ein Teil dieser Familie zu sein. Die Handlung baut sich abwechselnd aus der Perspektiven des Vaters Bertie und der Mutter Lisa auf. Sie streift hier und da auch noch einmal ein Stück in die Vergangenheit zurück, was raffiniert ist; dennoch geht der rote Faden nicht verloren. Neben der familiären Entwicklungsgeschichte zeigt Kordon auch den gesellschaftlichen und vor allem politischen Hintergrund von den Mittzwanziger Jahren bis zum Ende des zweiten Weltkrieges. Er mahnt ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben und macht verständlich, warum manche Menschen furchtbare Taten für „normal“ hielten. Dass gewisse Themen leider heute wieder aktuell werden, regt darüber hinaus zur Diskussion an.

Klaus Kordon`s Bücher sind für alle, die sich ansonsten den Geschichtsunterricht langweilig finden, ein spannender und verständlicher Einstieg in verschiedene deutsche Epochen. Mit seinem „Karussell“ ist ihm ein Meisterstück atmosphärischer, lebendiger Erzählkunst gelungen, die sorgfältig recherchierte deutsche Historie leicht verständlich und überaus spannend präsentiert.

Vielleicht braucht es ein gewisses Maß an persönlicher Reife, Alter und nicht zuletzt auch Mut, um sich mit solch Intensität an der Aufarbeitung seiner eigenen Familiengeschichte zu wagen. Dieser Mut hat sich gelohnt.

Ein schönes Cover rundet den Roman stimmig ab.

Sabine Hoß

Bewertung:

Ein Interview mit dem Autor findet Ihr hier:

 

 

 

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