Salah Naoura
Beltz & Gelberg, ET 17.07.2025
112 Seiten, € 13,00
ab 12 Jahre
Der mehrfach ausgezeichnete Autor und Übersetzer Salah Naoura hat sich mit seinen hervorragenden Kinder- und Jugendbücher, wie beispielsweise die Reihen um „Matti und Sami“ oder „Superflashboy“ oder mit den einzelnen Romanen wie „Chris, der größte Retter aller Zeiten“, „Dilipp und der Urknall“ (um nur einige zu nennen) in mein Herz geschrieben. Salah Naoura hat die besondere Gabe, schwierige Themen mit Humor auf Augenhöhe von Kindern zu verpacken, wobei seine Herangehensweise auch für Erwachsene ein Lese- und Vorlesegenuss ist.
In seinem neuen Buch geht es um Viktor, 14 Jahre, der die Wohnung seines Vaters verlassen und sich dabei ausgeschlossen hat, um nachzuschauen, wo der Vater bleibt, denn er wollte nur mal kurz weggehen. Mittlerweile sitzt Viktor oben auf dem Dach des Hauses und schaut über die Stadt. Nachdenklich gehen seine Gedanken an die letzten Jahre zurück und was er in diesen alles erleben und verkraften musste:
Im Grundschulalter musste Viktor schweren Herzens seinen besten Freund Flo und Berlin verlasen, weil sein Vater den Kick der Gefahr über alles und über seine Familie stellte und nachdem die Extremsportarten wie Bungee, Fallschirm, Gleitschirm oder Freiklettern langweilig geworden waren, ist er dem Fliegen mit einem Wingsuit verfallen. Aus diesem Grund musste die Familie in die Schweiz ziehen, weil im Lauterbrunnental es so geniale Felsen wie sonst nirgendwo gibt, die einen Sturz aus 700 Meter ermöglichen.
Im Alter von neun Jahren macht Viktor mit seinen Eltern Urlaub in Portugal, wo ihn sein Vater gegen seinen Willen und dem der Mutter überredet, mit ihm auf eine hohe Stadtmauer zu klettern, obwohl der Vater weiß, dass sein Sohn nicht schwindelfrei ist. Während der Vater mit einem Freudenschrei die Höhe begrüßt, verliert Viktor vor Höhenschwindel den Boden unter den Füßen und fällt viele Meter in die Tiefe. Mit sehr viel Glück überlebt er den Sturz, was nicht zum ersten Mal so ist, denn der Vater überredet seinen Sohn immer wieder Dinge zu tun, die nach seinem Denken mutige Jungs machen und es dazugehört, über Grenzen zu gehen, auch wenn es unüberlegt, gefährlich und gegen den absoluten Willen von Viktor ist.
Der Sturz von der Stadtmauer führt dazu, dass sich Viktors Mama scheiden lässt und das alleinige Sorgerecht für Viktor einfordert, da der Vater nicht die ausreichende Verantwortung zeigt. Mit seiner Mutter zieht Viktor wieder zurück nach Berlin-Charlottenburg, wo die beiden bei Tante Pia, der Schwester von Viktors Mutter, in einer großzügigen Wohnung leben. Nach vier Jahren mit ganz wenigen persönlichen, kurzen und sehr enttäuschenden Kontakten zu seinem Vater meldet dieser sich erneut bei ihm, da er jetzt ebenfalls wieder in Berlin lebt. Das Wiedersehen wird für beide eine herausfordernde Begegnung, denn Viktor muss ausloten, ob sich sein Vater wirklich verändert hat, wie dieser es ihm versichert. Als Viktor seinen lang vermissten, gesuchten Freund Flo durch einen Zufall wiederfindet, ergibt sich die Möglichkeit, die Freundschaft mit Flo fortzusetzen und gleichzeitig den Kontakt zu seinem Vater neu zu beleben und zu intensivieren. Seine Mutter ist zunächst alles andere als begeistert, doch Viktor fordert nun seine Rechte ein, obwohl er unsicher darüber ist, wie das Zusammenleben mit seinem extremen Vater werden wird.
Salah Naoura lässt Viktor aus einer klaren, reflektierten Ich-Perspektive erzählen, was mich als Leserin sofort mit dem Vierzehnjährigen verbunden hat. Die Erzählweise ist nicht jugendlich anbiedernd, dafür betrachtet Viktor mit ruhigen Gedanken humorvoll und klug die letzten Jahre mit all den schwierigen und belastenden Einschnitten: Mit dem nicht gewollten Umzug, Trennung von seinem besten Freund, immer wieder Streit zwischen den Eltern, das egoistische Eigenleben seines Vaters, der jahrelange Kontaktabbruch von ihm und jetzt das vorsichtige Annähern, begleitet vom Zweifel über seine Veränderung.
Salah Naoura geht hier mit Empathie und Sensibilität ein selten beschriebenes Thema in der Kinder- und Jugendliteratur an, nämlich, dass Elternschaft nicht zwingend mit Verantwortung, Respekt, Geborgenheit und Liebe verbunden sein muss, sondern dass es durchaus auch narzisstische Elternteile gibt, denen diese Eigenschaften fehlen. Den ständigen Kick der Gefahr, den Viktors Vater in seinen Extremsportarten sucht und auslebt, ist mit einer Sucht vergleichbar, was sein egozentrisches und empathieloses Verhalten aber nicht entschuldigt. Dabei gelingt es Salah Naoura großartig, den Vater nicht zu demontieren und sein Verhalten nicht zu bewerten. Andererseits lässt er Viktor von einem hilflosen Neunjährigen sichtbar unter all den belastenden Erfahrungen zu einem klugen, reflektierten 14-jährigen reifen, der sich selbst und seine Eltern kritisch im Blick hat und auch sein Recht einfordert. Nicht, um seine Mutter zu verletzen oder abzuweisen, sondern weil er seine wiedergefundene wichtige Freundschaft zu Floh nicht wieder verlieren und seinem Vater eine Chance geben will.
Eine spannende, bewegende Geschichte, die mit Tempo und interessanten Wendungen von einem Teenager erzählt, der über alle Traurigkeit und Folgen des egoistischen Verhalten seines Vaters ( und vielleicht auch in Teilen der Mutter) den Verlust der gemeinsamen Zeit klug wie selbstkritisch betrachtet und beiden eine Chance gibt. Manchmal sind Teenager erwachsener als die Erwachsenen und damit ist dieser Roman ein klares „all age“-Buch. 🙂
Ein wunderschönes, passendes Cover rundet diesen humorvollen Entwicklungsroman über ein schweres Thema ab.
Sabine Wagner