Raynor Winn
Aus dem Englischen von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair, Kollektiv Druck-Reif
Das Buch zum Film
Goldmann, ET Juni 2025
432 Seiten, 8 Seiten farbg. Bildteil, € 13,00
Das 2019 in England unter dem Titel „The Salth Path“ und im Oktober 2022 erstmals bei DuMont in deutscher Sprache erschienene Buch, das sich schnell zum internationalen Erfolg entwickelte, wurde 2024 mit Gillian Anderson und Jason Isaacs unter der Regie von Marianne Elliott verfilmt. Dies war die erste Filmarbeit für die Theaterregisseurin, das Drehbuch schrieb Rebecca Lenkiewicz, das auf dem vorliegenden und gleichnamigen Roman von Raynor Winn basiert.
Raynor und Moth kennen und lieben sich seit Jugendtagen und haben mit harter Arbeit alles erreicht, was sie sich erträumten: Ein eigenes Haus mit Ferienwohnungen als Einkommen, große Wiesen mit Schafen. Ihre beiden Kinder sind hier groß geworden und studieren heute in anderen Städten. Moth investiert eine hohe Summe Geld in einer der Firmen seines längsten und besten Freundes, der in einer für Moth undurchsichtigen Finanzwelt arbeitet. Als die Firma pleite geht und es offene Rechnungen gibt, soll Moth, der angeblich laut Vertrag für die Schulden haftet, diese ausgleichen. Das würde allerdings bedeuten, dass Moth und Raynor ihr Haus und Gut verlieren. Da die beiden sich keinen Rechtsanwalt leisten können, verteidigen sie sich vor Gericht selber, was wenig erfolgreich ist. Als Raynor vor der letzten Verhandlung den einzigen Beweis zu ihrer Entlastung findet, macht sie einen entscheidenden formalen Fehler, so dass der Beweis nicht angenommen und die Berufung abgelehnt wird. Die schlimmsten Befürchtungen werden Realität, Moth und Raynor verlieren alles und müssen ihr Haus räumen. Zur selben Zeit erhält Moth die Diagnose, dass er an CBD leidet, eine seltene neurodegenerative Erkrankung für die es keine Medikamente und keine Heilung gibt, nur eine palliative Begleitung. Völlig überfordert mit ihrer Situation und mit null Perspektive für ihre Zukunft hat Raynor die Idee, mit Moth den „South West Coast Path“ zu gehen und während dieser Zeit zu überlegen, wie es für sie weitergehen soll, auch wenn die damit verbundenen Anstrengungen für Moth` Erkrankung aus medizinischer Sicht eine Gefahr bedeuten. Beim Aufräumen ihres Hauses findet Raynor den Reiseführer von Paddy Dillon „The South West Coast Path – From Minehead to South Haven Point“, der ihr treuer und unverzichtbarer Wegbegleiter werden wird. Vor den beiden liegt Großbritanniens längster Fernwanderweg mit 630 Meilen =1.014 Kilometer und 35.000 Höhenmetern, auf den sie sich mit mehr als bescheidener Ausrüstung begeben.
Diese lange Wanderung ist geprägt von Geldsorgen, Hunger und Durst und oft von Ablehnung, wenn sie auf Nachfrage zu Beginn noch zugeben, obdachlos zu sein. Die beiden müssen Hitze, Sturm, Regen und Kälte in ihrem kleinen Zelt überstehen, die einfachen Rucksäcke sind oft durchnässt und Multifunktionskleidung ist in jeder Hinsicht nicht vorhanden. Trotz all dieser Entbehrungen gelingt es Moth und Raynor immer wieder sich gegenseitig aufzurichten und Mut zuzusprechen, was unter den gegebenen Umständen alles andere als einfach ist. Ihre ohnehin schon seit vielen Jahrzehnten bestehende gegenseitige Liebe vertieft sich einmal mehr und erfrischt sich trotz aller Einschränkungen und Belastungen. Immer wieder fragen sie sich, warum und wie sie die Besitzlosigkeit, Armut unter den harten Bedingungen aushalten, doch sie können es, weil sie an sich und mit dem anderen daran wachsen. Nicht zuletzt gibt ihnen auch die beeindruckende, wechselnde Landschaft und die Schönheit der farbenprächtigen Natur die nötige Motivation, optimistisch nach Vorne zu gehen.
Es ist eine emotionale Lebensgeschichte, die Raynor Winn in ihrem Buch unterhaltsam niedergeschrieben hat, bei der man sich manchmal bewundernd fragt, wodurch die beiden immer wieder ihren Optimismus und die Kraft zum Weitergehen gefunden haben und ein Aufgeben nie in Frage kam. Bei dem bewegenden Reisebericht reflektiert die Autorin immer wieder kritisch die entwürdigende, herabsetzende Betrachtungsweise von Obdachlosen und spiegelt sie im Kontext ihrer eigenen Erfahrungen, was nachdenklich macht. Doch sie erzählt auch von zugewandten, freundlichen Menschen, die ihnen helfen, wenn es Not tut. Viele Besonderheiten und Schönheiten an bestimmten Orten weiß Raynor Winn stimmungsvoll und bilderreich zu beschreiben, so dass man sich als Leser*in in die Atmosphäre der Natur und Landschaft eingebunden fühlt und die „Brombeeren mit einem Hauch von Salz“ (Zitat) nahezu auf der Zunge schmeckt.
Zugegeben empfand ich eine gewisse Länge und Wiederholung, nachdem die beiden Land`s End und damit die Hälfte des South West Coast Path erreicht hatten, bei den Beschreibungen der zweiten Hälfte bis Poole, da mir ab hier die Schilderungen der mir unbekannten Orte zu viel wurde. Aber das ist an dieser Stelle eine sehr persönliche Empfindung.
Ein beeindruckender Lebensabschnitt und Reisebericht, der Moth und Raynor sehr viel abverlangt, ihre ohnehin tiefe Liebe unerschütterlich macht und Hoffnung gibt, dass es mit ein wenig Zuversicht und gegenseitigem Halt irgendwie immer einen (Lebens-)Weg nach vorne gibt.
Ein Hinweis verdient das persönliche, bewegende Nachwort von Raynor Winn zum „Buch zum Film“.
Sabine Wagner