Die Passantin

Nina George

Kein & Aber, ET  11.08.2025

320 Seiten, € 26,00

 

 

 

 

Nina George ist eine facettenreiche Schriftstellerin, die in unterschiedlichen Genres unter verschiedenen Pseudonymen, auch gemeinsam mit ihrem Ehemann Jens J. Kramer, von Krimi bis Belletristik sehr erfolgreiche Bücher schreibt. Mit „Das Lavendelzimmer“ hatte sie 2013 ihren Durchbruch, gefolgt von weiteren wunderbaren Romanen wie „Das Traumbuch“ (2016) oder „Die Schönheit der Nacht“ (2018), alle im Knaur Verlag erschienen.

Mit „Die Passantin“ präsentiert Nina George nun ihren neuen Roman, diesmal im Verlag Kein und Aber. Ins diesem Roman geht es um die Frage, was wäre, wenn man für Tod gehalten wird und ab diesem Moment sein Leben von vorne aufsetzen könnte? Geht das überhaupt und wenn ja, wie kann man aus seinem bisherigen Dasein verschwinden?

Genau vor dieser Frage steht eine der bekanntesten französischen Filmschauspielerinnen, Jeanne Patou, die 2015 nicht in das Flugzeug einsteigt, das kurz nach dem Start in Barcelona in ein Bergmassiv einschlägt und alle Menschen darin sterben. Jeanne Patou hat nun die Möglichkeit, aus ihrem bisherigen Leben zu verschwinden, denn keiner weiß, dass sie das Flugzeug nicht bestiegen hat. Nach einer kurzen Überlegungszeit entscheidet sie sich dazu, den bisherigen Verpflichtungen, unter der sie als Filmschauspielerin leidet, dem Druck und der Dominanz unter ihrem Ehemann Bernard, der ihr auch den Namen Jeanne Patou gegeben hat und mit dem sie eine demütigende, gestörte Liebesbeziehung führt, zu entkommen. Sie verschwindet auch aus dem Leben ihrer beiden geliebten, erwachsenen Töchter und dem ihrer Mutter.

Jeanne stiehlt vier Ausweise und drei Führerscheine um in andere Identitäten zu wechseln, denn das ist für sie als Schauspielerin kein Problem. Sie findet Unterschlupf in einem abseits gelegenen Haus in Barcelona mit sechs weiteren Frauen, die alle aus verschiedenen und doch gleichen Gründen ihr bisheriges Leben verlassen haben. Es ist „ein Haus voller Einzelgängerinnen.“ (Seite 131).
Viereinhalb Jahre lang richtet sich Jeanne, die sich nun Sella oder Carlos Garcia Olarte nennt, von innerem Zweifel und Zerrissenheit begleitet in ihrem neuen Leben ein. Neben der Katze Caterina Valente sind ihr die sechs anderen Frauen mit ihren unterschiedlichen Schicksalsschlägen ein wichtiger Halt. Besonders nahe ist ihr Nina. Nina Gabriela Blanxart ist Polizistin und „kennt zwei Gesetzbücher – das Gesetz der Frauen und das Gesetz der spanischen Krone. Sie stimmen nicht überein.“ (Seite 131/132). Mit Nina hat Sella die engste Verbindung und wird von ihr in mehrfacher Hinsicht unterstützt.
2019 sieht Sella als eine von vielen Passantinnen auf der La Rambla ihren Mann Bernard mit einer Frau. Wird er sie erkennen und wie wird er reagieren? Will sie erkannt werden und wie wird sie sich verhalten? Will sie wieder zurück zu ihren Töchtern und ihrer Mutter?

Die Grundfrage der Geschichte ist nicht neu und doch habe ich sie noch nie so zornig und aggressiv beschrieben gelesen wie im vorliegenden Roman, an dem ich mich aus verschiedenen Gründen gerieben habe.
Was mir als Erstes übel aufstieß, ist die Tatsache, dass die Protagonistin Jeanne Patou nicht in irgendein Flugzeug nicht eingestiegen ist, das später abstürzt, sondern dass sich Nina George dafür den German Wings Flug 4U 9525 ausgesucht hat, der am 24. März 2015 bekannterweise durch den Copiloten vorsätzlich und bewusst gesteuert in den Westalpen zerschellte und 150 Menschen dabei ihr Leben verloren haben. Ein reale Flugkatastrophe, die für viele Menschen Leid und Verlust gebracht hat.
Warum diese spezielle Tragödie für die Figur Jeanne benutzt wurde und immer wieder  mit Details benannt wird, die aber für das Hauptthema der Story keine Bedeutung haben, denn es hätte auch ein fiktiver Flugzeugabsturz als Grundlage verwendet werden können, wirkt für mich wie Effekthascherei. Für mich daher auch unverständlich, dass man weder im Klappentext noch im Vorsatz des Buches einen entsprechender Trigger-Hinweis findet.

Warum Jeanne aus ihrem Leben verschwindet und als Sella bzw. Carlos einen neuen Lebensabschnitt mit den sechs anderen Frauen, die ebenfalls ihrem alten Leben entflohen sind, beschreibt Nina George nachvollziehbar und eindrücklich. In dem Gedankenspiel geht es im Wesentlichen um die Frage, ob die Frauen „eine Blaupause der allgemein zur Verfügung gestellten Frauenschnittmuster sind: Lolita, Luder, Mutter, Geliebte, Heimchen, Drecks-Emanze?“ (Seite 66)
Es geht um unterschiedliche Unterdrückungen, Zurück- und Abweisungen und der Reduzierung auf bestimmte Rollen von Sella und den anderen sechs Frauen, sowie den Frauen allgemein. Es geht aber auch um sexuelle Gewalttaten, die einzelne Frauen erleiden mussten, sie seelisch und körperlich verstümmelt haben.
Nina Georges Sprache hat eine Bandbreite von poetisch fein und klar bis hin zu leider  überwiegend aggressiv bis derb-vulgär, was die Geschichte für mich nicht braucht, um verstanden zu werden.
Ich hätte gerne darauf verzichtet, in einer primitiven, gewöhnlichen Ausdrucksweise zu lesen, dass sich Jeanne fragt, ob ihr Mann noch immer „seinen nass geleckten Daumen ungefragt in einen weiblichen Anus steckt“ (Seite 26) oder dass er Jeanne „mit Milchkaffee mit Zimthäubchen gegen Analsex sodomisierte“ (Seite 113). Auch hätte ich ohne den genauen Abriss über Revenge Pornos die nicht nur sexuelle toxische Beziehung zwischen Jeanne/Sella und ihrem Ehemann verstanden.

Nina George nennt eine Protagonistin ebenfalls Nina, die Polizistin. Mit  dieser gleichnamigen Figur sowie Jeanne/Sella ist anzunehmen, dass die Autorin sich selbst als judikative Instanz einsetzt, um die Rechte der Frauen zu verteidigen und die täglichen schmerzhaften Beschneidungen und daraus entstehenden physischen wie psychischen Verletzungen aufzuzeigen und anzuklagen. Dabei insbesondere immer wieder sexuelle Handlungen an Frauen, die nicht einvernehmlich geschehen. Damit gehe ich mit der Autorin d`accord und gelingt für mich immer dann besonders gut und überzeugend, wenn es klar und direkt dargelegt wird, ohne derb-vulgär zu sein.
Mit Sätzen, wie „Ich werde dich nicht töten, aber ich habe eine Armada, eine Legion an Männern, die mit ihren Worten und Ejakulationen auf dich schießen werden, so lange, bis sie auch auf dich scheißen, bis du in Samen und Scheiße ertrinkst“ (Seite 237/238) setzt die Autorin Frauen für mich sprachlich auf ein niedriges Niveau herab und lässt sie verlieren.

Die Frage, wie würde ich mein Leben leben, wenn ich in diesem Moment aus meinem jetzigen aussteigen könnte, ist und bleibt spannend. Genau so wichtig ist die Anwaltschaft für die Rechte der Frauen mit dem direkten, offenen Hinsehen und Anzeigen der täglichen sexuellen Übergriffe an Frauen mit einer klaren, schonungslosen, offenen Darlegung, die  meinetwegen auch aufgebracht sein darf.
Nina George hat mit den Figuren Jeanne/Sella und Nina ein verzweigtes, manchmal auch verwirrendes, spannendes Gedankenspiel entfacht. Warum sie daber darüber mit einem derart um sich schlagenden lauten, agressiven Zorn und für mich überwiegend in einem Ton unter jedem literarischen Niveau geschrieben hat, bleibt offen.

Das Cover ist perfekt gewählt.

Sabine Wagner

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