Jan Costin Wagner
Galiani Verlag Berlin, ET 14.08.25
320 Seiten, € 24,00
Der 1972 geborene Schriftsteller und Musiker Jan Costin Wagner ist durch seine drei mehrfach ausgezeichneten Kriminalromane um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa international bekannt geworden. Die drei Romane wurden mit namhaften Schauspielern für das ZDF zwischen 2010 und 2021 verfilmt und waren ein großer Zuschauererfolg. Der neue Roman ist kein Krimi und damit für mich das erste Buch des Autors.
Tobias ist in der siebten Klasse und soll wie alle für den Deutschunterricht ein Referat schreiben. und hat sich dafür Donald Duck und die lustigen Taschenbücher ausgesucht. Von dem Vater seiner Schulfreundin Sofie, Markus Stenger, wird er eingeladen, sich seine umfangreiche Sammlung der lustigen Taschenbücher zu Hause anzusehen, was Toby gerne annimmt, auch weil er Sofie mag, was auf Gegenseitigkeit beruht. Markus Stenger hilft Tobias ein wenig beim Referat und so fühlt er sich gut vorbereitet für die Präsentation am übernächsten Tag. Toby fühlt sich wohl bei den Stengers, denn zuhause bekommt er nicht viel Unterstützung. Seine stark stimmungsschwankende und dem Alkohol zugeneigte Mutter ist mit einer komplizierten Erbschaftsangelegenheit beschäftigt, sein Vater gehört zu den Verschwörungstheoretikern und hat sich in den letzten Jahren sehr verändert.
Markus Stenger liebt seine Familie über alles. Als Architekt hat er für seine Frau Kerstin und Tochter Sofie ein wohliges Zuhause geschaffen. Die Drei sind eine liebende und sich gegenseitig schätzende Symbiose, dennoch nicht unrealistisch dargestellt. Markus überrascht Sofie, ihre Cousine Lotte und ihre Mutter Isabel mit Konzertkarten einer von den Dreien verehrten, angesagten Popsängerin, die auf Welttournee ist und in Stuttgart ein Konzert gibt. Markus setzt Sofie, Lotte und Isabel vor der Konzertarena ab, wo er sie auch wieder abholen wird, während er derweil im benachbarten Restaurant auf sie wartet. Doch als er sie am Ausgang abholen will, wird auf die Konzertbesucher ein Anschlag verübt. Lotte und Isabel überleben, Sofie nicht.
Von Ende Mai, in dem der tödliche Anschlag verübt wird, bis Dezember begleitet man die einzelnen Figuren, wie sie mit dieser Erschütterung umgehen.
De facto kann man sich nicht in die Situation hineinversetzen, sein geliebtes Kind überhaupt und hier noch durch einen politisch motivierten Anschlag zu verlieren, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Dennoch gelingt es Jan Costin Wagner mit einer tiefen Sensibilität in einer klaren, messerscharfen Sprache, die dennoch an den richtigen Stellen zart und vorsichtig ist, genau das mit den einzelnen Protagonisten zu erzählen. Der Autor hebt auf der Grundlage des fiktiven Attentats mit seinen verheerenden Folgen am Beispiel der Familie Stenger sowie mit Tobias und seiner Familie und einem großen Bogen an unterschiedlichen Gefühlen, verschiedene brisante und aktuelle, gesellschaftskritische Themen hervor. Dabei bewertet er nichts, keine Handlung, kein Verhalten. Er zeigt aber auch, wie unterschiedlich Sofies Eltern, aber auch Toby sowie Lotte und Isabel mit ihrer Trauer umgehen. Insbesondere Markus und Kerstin entfernen sich dabei immer mehr voneinander und wissen nicht, wie sie gemeinsam die Trauer und das Leben danach meistern sollen.
Kerstins Mutter lebt mit Demenz in einem schönen Pflegeheim und es besteht Uneinigkeit darüber, ob und wie man ihr den Tod ihrer geliebten Enkelin beibringen soll. Markus kapselt sich immer weiter von Kerstin und der Außenwelt ab und sucht den Kontakt zu der Familie des ebenfalls toten Attentäters. Allerdings entwickeln sich die Begegnungen anders, als Markus sich das vorgestellt und womit er nicht gerechnet hat. Mit diesen Begegnungen geht der private, familiäre Verlust in eine politische Fragestellung und Diskussion über, ohne zu urteilen, zu verurteilen.
Auch Toby muss mit der Trauer über den plötzlichen Verlust seiner lieben Freundin umgehen und erhält von seiner Familie keine Unterstützung. Er sucht immer wieder Halt bei den Eltern von Sofie, insbesondere bei Markus. Mit großem Einfühlungsvermögen zeigt der Autor mit den Figuren Toby und Markus, dass sie sich unabhängig vom Altersunterschied gegenseitig trösten können.
Jan Costin Wagner setzt klug überraschende Wendungen in die Handlung ein und verbindet großartig die hervorragend ausgearbeiteten Figuren auf einer tiefgründigen emotionalen Achterbahnfahrt, die jeder in einer anderen Intensität und Dimension erlebt. Dieser Roman über Schweigen und Emotionen ist fesselnd und aufrüttelnd, an keiner Stelle will er Effekthascherei, noch erhebt sich ein moralischer Finger. Trotz der furchtbaren Erschütterung durch die grausame Tat ist er ein Plädoyer gegen Hass und appelliert für die Hoffnung auf Versöhnung, auch wenn Menschen unversöhnliche Taten begehen.
Ein großartiger Schriftsteller, den ich ab jetzt im Blick haben werde.
Das Cover ist fein und mit dem Umbruch prägnant, daher perfekt stimmig.
Aus den Dankworten des Autors am Ende des Buches: Parallel zu diesem Roman und in thematischer Vernetzung entstanden von dem Schriftsteller und Musiker Jan Costin Wagner die beiden Songwriter-Alben „violet tree“ und „Unbelegte Reise“.
Sabine Wagner