Meine Schwester

Bettina Flitner

Kiepenheuer & Witsch, ET 04.09.2025

320 Seiten, € 24,00

 

 

 

 

Mit ihrem Roman „Meine Schwester“ präsentierte die Fotografin und Autorin Bettina Flitner 2022 ihre Aufarbeitung über den Suizid ihrer Schwester. Vielleicht auf den ersten Blick nicht wirklich überraschend, setzt sich Bettina Flitner nach diesem erfolgreichen Roman mit dem vorliegenden Buch mit einem weiteren Familienmitglied, hier mit ihrer Mutter, auseinander.

39 Jahre nach dem Suizid ihrer Mutter kehrt Bettina Flitner anlässlich einer Lesung zu ihrem Buch „Meine Schwester“ nach Celle zurück, wo ihre Mutter und andere Familienmitglieder begraben liegen. Nach langer Zeit besucht sie das Grab ihrer Mutter und das Haus ihrer Großeltern Ami und Api mütterlicherseits, das mit vielen Kindheitserinnerungen verbunden ist und in dem heute drei Ämter des Landkreises untergebracht sind.
Während Bettina Flitner von der Gleichstellungsbeauftragten durch die Räumlichkeiten geführt wird, erhält sie von einer anderen Angestellten die Nachricht, dass ein Brief an ihre Mutter Gisela an diesem Tag zugestellt wurde. Der Brief ist von der Deutschen Bank mit der Mitteilung über die Änderung des Einlagensicherungsfonds und Bettina Flitner steht plötzlich vor vielen Fragen: Warum hatte ihre Mutter ein bis heute unbekanntes Konto auf die Adresse ihrer Eltern und seit wann? Diese Fragen sind der Auslöser für die Autorin, sich erneut mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen.

Sie reist nach Miedzygórze, einem kleinen Ort in Polen, der vor dem Weltkrieg Wölfelsgrund hieß und zu Niederschlesien gehörte. Hier hatte Bettina Flitners Ururgroßvater Heinrich als Arzt ein Sanatorium errichtet und das Dorf zu einem Luftkurort etabliert. Beides erfreute sich im Laufe der Zeit zu großer Beliebtheit und wurde gut besucht. 1911 gab Heinrich die Leitung an seinen zweitältesten Sohn Richard ab, den Urgroßvater von Bettina Flitner, der ebenfalls Arzt war. Richard heiratete Elfriede, die aus wohlhabenden Haus stammte und gemeinsam bauten sie das Sanatorium aus. Die beiden bekamen fünf Kinder, darunter Annemarie, genannt Ami, die spätere Großmutter der Autorin.
Der 30.09.1931 war ein Tag der Erschütterung mit einem verhängnisvollen Ereignis, der alles änderte. Bettinas Großmutter Ami war 28 Jahre und ihr Mann Rudolf, Api, ebenfalls Arzt, 33 Jahre alt, als dieser von heute auf morgen die Leitung des Sanatoriums übernehmen und um den Erhalt kämpfen musste.

Während die Autorin in die ihr bis dahin nur durch Erzählungen und Niederschriften bekannten Örtlichkeiten und Gebäuden von Wölfelsgrund eintaucht, stellt sie fest, dass 1936 ihre Mutter Gila den Raum als ihr Kinderzimmer zugewiesen wurde, in dem 1931 das für alle erschütternde Drama passierte.

Im Juli 1945 wurde Wölfelsgrund evakuiert und Rudolf arbeitete in seiner Praxis im benachbarten Doktorhaus. Die Familie ist hin und hergerissen über die bange Frage, ob sie bleiben sollen und können, denn sie wollen sich gerne mit den Polen arrangieren, oder ob sie alles hinter sich lassen und gehen müssen. Am 06. März 1946 muss auch das Doktorhaus geräumt sein und der erste Teil der Familie flüchtet nach Celle, wo sie Unterschlupf in dem großen Haus von Dora finden, einer langjährigen Patientin des Sanatoriums und offenbar mehr als eine gute Freundin von Api. Später folgen auch die weiteren Familienmitglieder.

Bettina Flitners Mutter Gila war in der ersten Zeit ihrer Kindheit zwischen ihren Geschwistern die kleine, verwöhnte Prinzessin der Familie. Eingebettet von Kinderfrau und vielen Hausangestellten bezirzte sie alle mit ihrem zarten Wesen und ihrer Schönheit, während ihre ältere Schwester neben den anderen Geschwistern einen deutlich schwereren Stand hatte.
„Doch als sie acht Jahre alt war, brach ihr Leben auseinander, sie geriet aus dem Focus der Familie. Eine vergessene Prinzessin.“ (Seite 115)

Gestützt durch aufgeschriebene Erinnerungen ihres Vaters, Großvaters, der Urgroßmutter und Großtante, durch Briefe, Zeitdokumente – und ihren eigenen Erinnerungen verbindet Bettina Flitner auch in diesem Roman raffiniert und spannend ihre Recherchereise in der Gegenwart mit einer teils fiktiven, teils historisch belegten Retroperspektive ihrer Familiengeschichte. Dabei versucht sie, sich an ihre Mutter zu erinnern und herauszufinden, welche Umstände und Einflüsse dazu geführt haben, dass sie sich zu der Person entwickelt hat, die sie geworden ist. Eine Frau, die ihr Leben lang Halt und Geborgenheit gesucht und wenig gefunden hat, was sich in ihrer Ehe und in ihrer Rolle als Mutter spiegelt.

Depressionen und Suizide ziehen sich wie ein roter Faden durch die Familie mütterlicherseits, wurden aber nur selten offen besprochen. Obwohl Bettina Flitners Sprache klar, direkt und offen ist, bewertet oder verurteilt sie weder ihre Mutter noch die anderen Familienmitglieder für ihr Tun. Ohne Beschönigung stellt sie fest, dass ihr Großvater Api als Opportunist durchaus antisemitische Einstellungen hatte und das über vieles in der Familie gelogen bzw. für das bessere Außenbild schöngerückt wurde.
In diesem Roman begegnet man vielen Familienmitgliedern aus „Meine Schwester“ wieder und werden in dieser Aufarbeitung in einem neuen Kontext hervorgehoben und kritisch durchleuchtet.
Bettina Flitners Mutter hatte sich später einmal gewünscht, „dass sie und ihre Tochter verbunden bleiben“, was die Autorin schon damals in Frage stellte, „da das Band schon seit langer Zeit kilometerlang von der Rolle gewickelt ist.“ (Seite 269)

Als Bettina Flitner am Ende des Romans in der Sprache der Banker durch Auflösung des letzten Kontos der Mutter diese „reaktiviert und dann das letzte von ihr auflöst, das noch bis in die Gegenwart reichte“ (Seite 309), tat sie das auch im übertragenen Sinn und ist mit ihrer Mutter und sich in Frieden, ohne dass es sentimental wirkt.

Wie auch in „Meine Schwester“ hat mich die eigene Erzählstimme von Bettina Flitner fasziniert, die schnörkellos, geradlinig, manchmal unnachgiebig, aber auch humorvoll eine tiefgründige, spannende Familienaufarbeitung präsentiert. Vermutlich hat Bettina Flitner mit diesem Roman das Ausleuchten ihrer Familie abgeschlossen und wird nicht vom Verlag als „Melkkuh“ fortgesetzt. Von daher bleibe ich gespannt und freue mich auf das nächste Buch von ihr mit einem neuen Thema.

Das Cover mit einem persönlichen Foto, dem lila farbenen Unterstrich zur Hervorhebung des Titels, dem lila Einband mit gleichfarbigem Lesebändchen runden das Buch perfekt ab und stimmen harmonisch mit dem gleichen in rot gehaltenen Buch „Meine Schwester“ überein.

Sabine Wagner

 

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