
Leon Engler
Dumont Verlag, ET 12.08.2025
208 Seiten, € 23,00
Sieben Kartons voller alter Rechnungen, Steuererklärungen, Vollstreckungsbescheide bleiben Leon von seiner Mutter, bevor ihre Wohnung zwangsgeräumt wurde. Die Kartons mit den wertvollen Erinnerungen wie Fotos der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, Liebesbriefe und Lebensläufe landeten durch eine Verwechslung in der Müllverbrennungsanlage. Eine Ironie des Lebens.
Der aus der Ich-Perspektive erzählende Leon, der scheinbar mit dem Autor übereinstimmt, hält mit diesen Kartons voller Müll Rückschau auf das Leben seiner verstorbenen Mutter, die Alkoholikerin war, wie auch auf das Leben seines Vaters und deren Familien. Diverse psychische Erkrankungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Familie seiner Eltern, mütterlicher- wie väterlicherseits: Den Vater begleiten sein Leben lang Depressionen, die Großmutter mütterlicherseits ist bipolar und umklammert ihre Tochter mit etlichen missglückten Suizidversuchen, der Großvater väterlicherseits wird Stammpatient in der berühmten Wiener Heilanstalt Steinhof. So ist es nicht verwunderlich, dass Leon sich davor fürchtet, das Trauma der psychischen Erkrankungen seiner Familie zu wiederholen bzw. weiterzutragen. Neben dieser Furcht begleiten ihn existentielle Ängste und eine Ruhelosigkeit, die ihn für lange Sitzungen in Wiener Kaffeehäuser zur Beobachtung anderer Menschen, nach New York, Paris und anderen Orten ziehen lässt. Erst mit dem Studium der Psychologie und damit der Möglichkeit, sich auch fachlich mit den psychischen Erkrankungen und Folgen seiner Familie auseinanderzusetzen, bekommt Leon Boden unter den Füßen. So beschreibt er beeindruckend nüchtern seine erste Zeit als junger Arzt in der psychiatrischen Klinik, die ihn am Anfang überfordert.
Leon Engler präsentiert mit seinem Debüt eine außergewöhnliche Mischung aus Entwicklungsroman, einer schonungslos offenen Familienanamnese, die aus großartig verbundenen Versatzstücken konkreter Erinnerungen an seine Eltern und Großeltern und dem nüchternen, distanzierten Blick eines Psychologen besteht, der sich mit den psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Bipolare Störungen, Depression und Alkoholsucht auseinandersetzt und damit versucht, seiner Familie näher zu kommen. In seiner Sachlichkeit und Distanz als Psychologe erklärt und beleuchtet Leon Engler die psychischen Erkrankungen, nimmt aber den Patienten nicht die Würde. Die Stimmungen seines Romans wechseln zwischen Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Phlegmatismus mit plötzlicher Agilität und Lebensfreude.
Dieser Roman ist weder in das Genre „erzählendes Sachbuch“ einzuordnen, noch ist es ein Roman mit Handlungs- und Spannungsaufbau, wie man es in der Belletristik gewöhnt ist. Doch das stört an diesem Buch überhaupt nicht. Mit Ironie und Selbstironie erzählt Leon Engler von seiner beschädigten Familie und bindet viele passende Zitate von anderen Schriftstellern und Wissenschaftlern, Psychologen, Philosophen ein, die im Glossar des Buches ausgewiesen sind.
Trotz aller Belastungen und Schwere, die psychische Erkrankungen für die Erkrankten selber und auch für ihre nächsten Angehörigen mitbringen, vermittelt Leon Engler am Ende ein tröstendes Gefühl.
„Kenne den langen Verlauf deiner eigenen Geschichte. (…) Kenne die inneren Abläufe deiner eigenen Psyche… bevor du es wagst, von anderen Geschichten zu verlangen.“ (Margaret Morgan Lawrence, Psychoanalytikerin)
Während ich versuche, meine Patienten besser zu verstehen, versuche ich auch, meine Familie besser zu verstehen. Die Patienten sind ratlos, ich bin ratlos. In der Ratlosigkeit begegnen wir einander. Dort wird es interessant, existenziell. Auch ich habe keine Gebrauchsanweisung fürs Leben. (…) (Zitat aus dem Buch, Seite 141/142)
Bücher über psychische Erkrankungen, über und aus der Psychiatrie scheinen derzeit auf dem Markt „en vogue“ zu sein. „Die Botanik des Wahnsinns“ gehört für mich zu einem der schonungslos ehrlichsten, tiefgründigsten und humorvollsten gepaart mit viel Fachwissen.
Leon Engler studierte Theater-, Film-, Medien-, Kulturwissenschaft und Psychologie in Wien, Paris und Berlin. 2018 schloss er sein Psychologiestudium mit dem Master ab, 2022 erhielt er beim Bachmann- Wettbewerb in Klagenfurt den 3sat-Preis. Er ist tätig als Autor, Psychologe und Dozent für Psychologie.
Das außergewöhnlich stimmige Cover fällt ins Auge. 😉
Sabine Wagner
