Beatrix Gerstberger
dtv, ET 26.06.2025
400 Seiten, € 22,00
Als Beatrix Gerstbergers Partner, der als Kriegsreporter für den Stern im Kosovo berichtete, 1999 dort erschossen wird, ist sie im sechsten Monat von ihm schwanger. Um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, zieht sie nach der Geburt ihres Sohnes mit ihm für sechs Monate nach Stonington, einem kleinen Fischerdorf an der Ostküste der USA. Dort lebt Beatrix Gerstberger mit den Hummerfischer*innen und fährt mit ihnen auch raus aufs Meer, lernt die harte Arbeit kennen und erfährt die heilende Wirkung des Meeres und der Umgebung.
Wieder zurück in Hamburg, arbeitet sie weiterhin (und bis heute) als Journalistin für verschiedene Magazine, wie beispielsweise GEO, Brigitte und der Stern. Aus der Trauerarbeit heraus entstand das erzählende Sachbuch „Keine Zeit zum Abschied nehmen – Weiterleben nach seinem Tod“, in dem sie sich mit dem Tod ihres Lebensgefährten auseinandersetzt und die ersten drei Jahren danach beschreibt. Dabei befragt sie auch andere junge Witwen, die von heute auf morgen ihren Partner verloren haben, wie sie mit dem plötzlichen Verlust umgegangen sind und wodurch sie wieder Kraft und neue Hoffnung für ein Weiterleben gefunden haben. Das bei Ullstein 2004 erschienene Buch ist heute leider nur noch gebraucht zu erwerben.
Doch die Zeit an der Ostküste bei Maine bei den Hummerfischern und auch ganz wenigen Hummerfischerinnen am und auf dem Meer hat Beatrix Gerstberger nicht losgelassen und pflegt bis heute enge Kontakte dorthin. Es hat seine Zeit gebraucht, bis die vorliegende Geschichte mit ihren drei einzigartigen Protagonistinnen gereift und zu Papier gebracht wurde.
In dem Roman über die Hummerfrauen geht es neben dem Hummer um drei starke Frauen aus unterschiedlichen Generationen:
Mina, Ende Zwanzig kehrt aus Philadelphia nach dem tödlichen Motorradunfall ihres geliebten Bruders Christopher noch einmal zurück nach Stone Harbour und kentert mit einem geklauten Kajak auf dem Weg zu Eagle Island. Das ist eine kleine Insel gegenüber Stone Harbour, auf der sie in einem Ferienhaus viele Sommerurlaube mit ihren Eltern und Christopher in ihrer Kindheit verbracht hat, bis sie von einem auf den anderen Sommer nicht mehr dorthin fuhren. Über die Gründe wurde nie gesprochen und Mina hat bis heute auf ihre Fragen keine Antworten bekommen. Während dieser vielen Sommerurlaube hat Mina sich mit Sam, einem Jungen von der Insel, angefreundet, mit dem sie durch die Wälder und am Strand umhergestreift ist. Mina wird von von Ellis Jones, dem Vater von Sam, aufgepickt und zu der 72-jährigen Ann gebracht, mit der Bitte, dass sie sich um die nicht nur triefnasse, sondern auch ziemlich ratlose Mina kümmern soll, da Ellis als Mann damit überfordert ist.
Ann ist vor vielen Jahrzehnten mit ihrer Lebensliebe Carolyn nach Stone Harbour gekommen, um in dem kleinen Fischerdorf unbehelligt ihre Liebe leben zu dürfen. Nachdem der gemeinsame Bio-Gemüseladen nicht funktioniert hatte, entschied sich Ann gegen alle Bedenken von Carolyn, ihren gemeinsamen Lebensunterhalt als Hummerfischerin zu verdienen, was auch funktionierte, obschon es lange für Ann gedauert hat, sich gegen die Männerdomäne durchzusetzen. Für Carolyn war dieses Leben allerdings bald nicht mehr vorstellbar, sie trennte sich von Ann und zog von Stone Harbour weg. Obwohl viele Jahre seitdem vergangen sind, trauert Ann noch immer ihrer großen Liebe nach. Sie lebt zurückgezogen, ihr treuer Gesprächspartner ist Mr. Darcy, ein blauer Hummer, den Ann einmal gefangen und ihn wegen der selten Färbung seiner Schale behalten hat.
Ann nimmt die 54-jährige Julie mit ins Boot, mit ihr gemeinsam Mina zu umsorgen und ihr neue (Lebens-)Perspektiven zu zeigen, da sie sich das alleine nicht zutraut. Julie ist mit ihrer extrovertierten, lauten und bestimmenden Art das Gegenteil von Ann und stößt damit ungewollt aber oft anderen vor den Kopf. Vor 10 Jahren hatte Julie einen schweren Verkehrsunfall, bei dem sie eine längere Zeit im Koma gelegen hat. Als sie daraus erwachte, war sie nicht mehr die Julie wie vor dem Unfall und musste sich langsam wieder ins Leben zurückkämpfen. In Stone Harbour hat sie ihren Frieden als Hummerfischerin gefunden, auch wenn sie manchmal der Grund für Unruhe in der Dorfgemeinschaft ist.
Obwohl auch Ann manchmal mit Julies Verhalten hadert, haben die beiden sich im Laufe der Zeit angefreundet, denn die beiden sind die einzigen Hummerfischerinnen in Stone Harbour und bilden eine kleine aber starke Allianz gegen die beherrschende, herbe Männer-Domäne, was ihnen mit weiblicher Stärke und rauem Charme gelingt.
Mina trifft während ihrer Zeit bei Ann und Julie auch wieder auf Sam, dem Freund aus Kindertagen. Mit ihm und der Unterstützung von Ann und Julie macht sie ihre ersten Versuche als Achtermann beim Hummerfischen, nicht ohne Zeus seinem Tribut am Anfang zu zollen. Bei Ann, Julie und Sam findet Mina wieder langsam Boden unter ihren Füßen und sie versucht herauszubekommen, warum ihre Familie plötzlich von einem Sommer auf den anderen nicht mehr ihre Urlaube auf Eagle Island verbracht haben.
Mit liebevollen, tiefgründig ausgearbeiteten Figuren, seien es die drei Hauptprotagonistinnen mit ihren verschiedenen Lebenspäckchen, die ich, so verschieden sie auch sind, schnell ins Herz geschlossen habe, oder die Nebenfiguren, wurde ich bereits nach fünfzig gelesenen Seiten in die Geschichte hineingezogen und fühlte mich als von außen betrachtende Mitbewohnerin des kleinen Fischerdorfes Stone Harbour, wie auch von den Bewohnern auf Eagle Island. Das ist schon lange keinem Buch mehr gelungen, dass es mich so schnell und intensiv gepackt hat. Beatrix Gerstberger beschreibt lebendig und bilderreich die Atmosphäre, das gemeinschaftliche Gefüge in diesem kleinen Fischerdorf und die harte Arbeit der Hummerfischer. Man spürt regelrecht das Salz, den Wind, die Eiseskälte wie auch die Sonne im Gesicht. Großartig verbindet die Autorin auch Minas Familiengeschichte mit Rückblicken in die Achtzigerjahre, als die Familie auf Eagle Island noch regelmäßig Urlaube machte. Wie in einem Puzzle bilden die Rückblicke vom dominanten Verhalten Judiths Mutter gegenüber der damals noch kleinen Mina, dem älteren Christopher und ihrem Mann Richard den Hintergrund der Vergangenheit.
Beatrix Gerstberger ist ein beeindruckender Roman gelungen, der von drei unterschiedlichen, starken, besonderen Frauen aus drei Generationen erzählt, die in dem kleinen Fischerdorf am Meer in einer engen Beziehung stehen und dort ihre persönliche Freiheit und Heilung von verschiedenen Verletzungen erfahren. Die Autorin bindet sehr geschickt Minas Familiengeschichte mit einer narzisstischen, grausamen Mutter ein, die mit ihrem toxischen Verhalten ihre eigene Familie drangsaliert, aber mit ihrem Hochmut bei den Fischerfrauen jeden Sommer, im Gegensatz zum Rest der Familie, im Abseits steht und damit nicht zurecht kommt, was nicht folgenlos bleibt. Mina stellt sich bei ihrem erneuten Besuch der Vergangenheit und setzt sich gleichzeitig mit der Gegenwart und der jetzigen Freundschaft mit Sam auseinander.
Wie es der Buchtitel schon sagt, ist „Die Hummerfrauen“ ein Buch über komplexe drei Frauen. Man würde aber dem Buch in keiner Weise gerecht werden, wenn dieser leichte und dennoch tiefgründige, facettenreiche Roman nur Leserinnen finden würde. Es ist ein Buch für alle und egal welchen Alters – und bitte nicht nur als Sommerlektüre! Für mich ist es bisher das Buch des Jahres, weil es mich in jeder Hinsicht von Anfang an bis zum Schluss gepackt hat.
Chapeau Beatrix Gerstberger für diesen Debütroman!
Bei dem Cover hat sich dtv diesmal selbst übertroffen:
Der Schutzumschlag mit dem gehäuteten Mr. Darcy in seinem orangen Panzer, auf dem Vorderdeckel des Buches Mr. Darcy als blauer Hummer, so, wie ihn Anne gefunden hat. Eine perfektere und schönere Symbiose zu diesem außergewöhnlichen Lesegenuss könnte es nicht geben.
Sabine Wagner