Vergiss mich

Alex Schulman

Aus dem Schwedischen von Hanna Granz

dtv, ET 15.05.2025

256 Seiten, € 23,00

 

 

 

Mit „Vergiss mich“ präsentiert Alex Schulman seinen dritten Roman bei dtv. Während 2021 „Die Überlebenden“ sein erstes in Deutschland erschienene Buch ein autofiktionaler Roman war, beschreibt Alex Schulman im vorliegenden rein autobiografisch seine Beziehung zu seiner alkoholkranken Mutter.

Im Sommer 2013 fahren Alex und sein Bruder Calle zum Sommerhaus der Familie in Värmland, um ihre Mutter Lisette davor zu bewahren, sich zu Tode zu trinken. Ihr Bruder Niklas hat in dem Sommerhaus mit seiner Familie Urlaub gemacht, so wie die drei Brüder es mit ihren Eltern viele Jahre lang gemacht haben. Doch ihre Mutter muss betrunken gewesen sein und sich unmöglich gegenüber den anderen verhalten haben, so dass Niklas kurzerhand mit seiner Familie wieder abgereist ist. Nun sollen Calle und Alex versuchen, die Mutter dazu bewegen, wieder mit ihnen nach Hause zu fahren.

Das ist der Ausgangspunkt, von dem Alex Schulman über die Alkoholsucht seiner Mutter erzählt, die damit die ganze Familie beherrscht hat. Der aus der Ich-Perspektive erzählende Autor verbindet sehr geschickt viele Rückblenden aus der Kindheit bis hin zur Gegenwart zwischen 2013 und 2015.

Schnörkellos erzählt er von der Zeit, als er noch sehr klein war und sich liebevoll aufgefangen von seiner Mutter fühlte und von der schleichenden Verhaltensveränderung Lisettes. So kann Alex sich daran erinnern, wie besonders und zugewandt er eine Fahrt alleine mit seiner Mutter zum Sommerhaus empfand und das ein paar Jahre später weder er noch seine beiden Brüder mit der Mutter fahren wollten, dafür lieber mit dem wesentlich hektischeren, unsicher fahrenden Vater.

„Wie ist das nur passiert? Wann ist das nur passiert?“

An viele schmerzvolle, demütigende Erlebnisse durch das Verhalten seiner Mutter von früher Kindheit bis als erwachsener Mann und Familienvater erinnert sich Alex Schulman, teilt sie mit den Leser*innen und arbeitet sie auf. Er fragt er sich dabei immer wieder, wann und warum seine Mutter sich so verändert hat und dem Alkohol verfallen ist. Warum hat er wie alle in der Familie, jeder auf seine Weise, diese Sucht unterstützt, die Mutter nicht offen darauf angesprochen? Seine Mutter war damals eine berufstätige Frau, die hervorragende Texte, Reden für andere, meist Männer, geschrieben hat, hinter denen sie stand und selber offenbar dabei untergegangen ist. Sie war aber auch die Tochter von Sven Stolpe, dem bekannten schwedischen Schriftsteller, der ein gefühlskalter, narzisstischer Vater war und ihr mit neun Jahren durch fürchterliche Entscheidungen die Kindheit nahm. Wie ihr jähzorniger Vater explodiert Lisette bei Kinderlärm, den man bei drei Jungs nur schwer ausschalten kann.

Alex musste bereits als Kind lernen, seine Mutter zu lesen, ihre Gefühlsausbrüche vorherzusehen und bestmöglich abzuwenden. Ebenso hat er gelernt, die Gefahr für sich zu erkennen, wenn sie krank war, durch Alkohol nicht für ihn und seine Brüder erreichbar war.

Es ist eine ganz unsentimentale, klare, manchmal erbarmungslos offene Aufarbeitung, mit der Alex Schulman über die Suche nach einer Beziehung zu seiner Mutter erzählt. Dabei geht es aber auch um die Beziehung zu seinem Vater und zu den beiden Brüdern und der hasserfüllten Beziehung der Eltern untereinander. Der Schriftsteller erzählt von der Co-Abhängigkeit, der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit von seiner Mutter und dem Wunsch nach Aussprache und Versöhnung, aber auch von der Tatsache des für immer Unausgesprochenen.

Diese großartig sachlich geschriebene, sehr private Aufarbeitung schmerzt an vielen Stellen. Alex Schulman beschreibt bewegend aber nie rührselig wie schwer es ist, mit seinen Erlebnissen und Traumata von Kindheit bis als Erwachsener umzugehen. Es ist ihm klar, dass ihm nur mit dem anstrengenden Bemühen der Selbstreflektion gelingen kann, diese nicht in der eigenen Beziehung und an seinen eigenen Kindern weiterzugeben.

Alex Schulman hat mit „Vergiss mich“ eine sachliche, bewertungsfreie, psychologische Aufarbeitung und Aufstellung seiner eigenen Familie geschrieben, in der sich alle und alles um eine alkoholkranke Mutter und Ehefrau drehen und dreht. Es geht um dreißig Jahre Dunkelheit und die Hoffnung, den Wunsch, die Mutter wieder zurückzubekommen, die irgendwann auch einmal Liebe und Wärme gegeben hat.

Dieses Buch hallt lange nach und ist trotz großem Schmerz auch ein wenig tröstend.

Wie auch die anderen Roman von Alex Schulman hat Hanna Granz auch dieses wunderbar aus dem Schwedischen übersetzt.

Ein feines, unauffälliges, stimmiges Cover rundet das Buch ab.

Sabine Wagner

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