Interview mit Janine Wilk

Am 07.07.1977 wurde Janine Wilk als einziges Kind eines Musikers und einer Malerin in Mühlacker geboren. Die Welt der Bücher hat sie bereits von Kind an fasziniert und begann mit elf Jahren ihre ersten Geschichten zu schreiben. Neben der Literatur ist aber auch die Musik für sie sehr wichtig, die bis zum Abitur auf einem musischem Gymnasium sogar im Vordergrund stand. Bis 2010 arbeitete sie als Klavierlehrerin, dann konzentrierte sie sich immer mehr auf das Schreiben und der Arbeit an ihrem ersten Buch. Die ersten Veröffentlichungen gab es im Bereich Lyrik und Kurzprosa. Im Kinder- und Jugendbuchbereich  schreibt sie bei Planet Girl die erfolgreiche Reihe „Lilith Parker“, von der im September 2014 der vierte Band erscheint. Darüber hinaus gibt es den spannend-geheimnisvollen Venedig Roman „Die Schattenträumerin“, ebenfalls Planet Girl von 2011.Janine Wilk lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern, Hund und Katze in der Nähe von Heilbronn.

Mit dem aktuellen Buch „Das Reich der Tränen“ hat sich die Autorin mit dem brisanten und herausforderndem Thema der häuslichen Gewalt beschäftigt. Ein guter Grund mit der Autorin ein Interview zu führen.

Janine Wilk (Foto (c) privat J.W.)

Janine Wilk (Foto (c) privat J.W.)

Frau Wilk, sie beschäftigen sich in anderen Büchern gerne mit Themen aus der Fantasy, da gibt es Hexen, Vampire und klapprige Skelette oder es geht über einen Fluch, der nicht nur Venedig bedroht.                                                   Was hat sie zu dem ganz anderen, brisanten Thema von häuslicher Gewalt gegenüber Kindern inspiriert?

Janine Wilk:

Ich bin auf das Thema aufmerksam geworden, da eine Freundin von mir dies in ihrer Kindheit erleben musste. Gerade die psychische Kindesmisshandlung wird in unserer Gesellschaft nur selten thematisiert, da sie für Außenstehende kaum greifbar und nur schwer nachvollziehbar ist. Deswegen wollte ich in meinem Buch veranschaulichen, wie schlimm und verletzend dieses grausame, herzlose Verhalten der Eltern sein kann. Die Kinder leiden darunter genauso wie unter Ohrfeigen oder Schlägen, aber konkrete Hinweise dafür gibt es nur selten – was diese Art der Misshandlung auch so schwer beweisen lässt.

Wenn sich Kinder,  wie in Ihrer Geschichte Mia, in häuslicher Gewalt befinden und in einer Fantasiewelt Zufluchtsort und Trost suchen, können wir Erwachsene das erkennen?

Janine Wilk:

Auch wenn ich mich für mein Buch viel mit dem Thema Kindesmisshandlung beschäftigt habe, möchte ich betonen, dass ich sicherlich kein Experte auf diesem Gebiet bin. Ich denke jedoch, dass es meistens Verhaltensauffälligkeiten sind, die einen aufhorchen lassen sollten. Einige Kinder leiten die Aggressionen, die sie selbst erleben mussten, umgehend weiter und fallen durch eine hohe Gewaltbereitschaft auf. Andere Kinder – wie meine Protagonistin Mia – reagieren mit sozialem Rückzug, sind auffällig schüchtern, leise und verschlossen.

Wie kann man als Außenstehender helfen?

Janine Wilk:

Bei einer psychischen Kindesmisshandlung kann man im Grunde nur helfen, wenn die Kinder den Mut fassen, sich jemandem anzuvertrauen und das ist für sie ein enorm schwerer Schritt. Kinder, die misshandelt werden, stecken nämlich in einem großen Dilemma: Zwar leiden sie unter dem, was ihre Eltern ihnen antun, aber gleichzeitig lieben sie ihre Eltern, genau wie jedes andere Kind auch. Misshandelte Kinder wollen ihren Eltern keine unüberwindbaren Schwierigkeiten bereiten oder riskieren, dass sie selbst in ein Heim gesteckt werden – ihre größte Sehnsucht und Hoffnung ist, dass von alleine alles wieder „gut wird“. Natürlich haben die Kinder auch große Angst davor, dass ihre Anschuldigungen niemand ernst nimmt, kein Erwachsener ihnen glauben könnte und sie am Ende als Lügner dargestellt werden. Wenn ihre Eltern dann von dem versuchten „Verrat“ erfahren, würden sich ihre Probleme zuhause ins Unermessliche steigern, was im Endeffekt für die Kinder bedeutet: Noch mehr Gewalt, noch intensivere Qualen. Wenn einem Außenstehenden eine Kindesmisshandlung auffällt, sollte er auf keinen Fall wegsehen, sondern sich ein Herz fassen und das zuständige Jugendamt um Rat und Hilfe bitten.

Die Welt der Fantasie ist für Mia Rettung, Schutz und Trost, da sie sich mit ihren Ängsten und Problemen weder einer Freundin noch Erwachsenen gegenüber öffnen kann. Aber eine Lösung ist diese Flucht sicher nicht?

Janine Wilk:

Selbstverständlich kann die Flucht in eine Fantasiewelt nicht die ultimative Lösung sein. Deswegen war es mir sehr wichtig, dass es für betroffene Kinder am Ende des Buches eine Liste mit Adressen gibt, wo sie konkrete Hilfe finden können. Denn traurigerweise ist die Flucht in die Fantasie oft für viele Kinder das Einzige, was ihnen noch bleibt. Auch wenn wir es gerne anders hätten: Selbst hier in Deutschland gibt es Kinder, die jeden Tag Armut, Hunger und Gewalt erfahren. Laut Polizeistatistik sterben in unserem Land jede Woche drei Kinder an den Folgen von Misshandlungen. Daran erkennt man, wie sehr die Kinder von der Gesellschaft mit ihren Problemen alleingelassen werden. Manchmal ist alles, an was sich die Kinder klammern können, ihre Hoffnung – und um sich diese Hoffnung zu bewahren, benötigt man Fantasie.

Sie haben schöne und passende Zitate aus anderen, bekannten Kinderbücher am Anfang eines neuen Kapitels gesetzt.  Warum?

Janine Wilk:

Die Geschichte in Mias Fantasiewelt setzt sich aus zwei Ebenen zusammen: Vordergründig wird Mias Abenteuer im „Reich der Tränen“ erzählt, doch zum anderen findet man dort – in leicht abgewandelter Form – Personen und Ereignisse aus Mias realem Leben wieder. Dazu gehören auch Segmente aus bekannten Kinderbüchern, die Mia in der Realität liest. Kinder bauen das, was sie lesen, oft in ihre eigene Fantasiewelt ein und manchmal formen sie daraus etwas völlig Neues. Um diese Parallelen für den Leser deutlicher herauszuarbeiten, habe ich Zitate aus den jeweiligen Büchern als Kapiteleinleitungen vorangestellt.

Es gibt weder in der Fantasiewelt noch in der Realität ein glückliches Ende, was ehrlich und konsequent ist. In Mias Fantasiewelt rät ihr Meister Animus das „Land der Tränen“  zu verlassen, sie darf aber jederzeit zu Besuch kommen und andere Menschen mitbringen.                                                          Mein einziger Kritikpunk ist der, dass die Geschichte in der Realität für Mia endet, ohne ihr einen Weg, eine Richtung zu zeigen, wie sie Hilfe bekommen kann. Warum haben Sie darauf verzichtet?

Janine Wilk:

Ich wollte keine Geschichte schreiben, bei der man am Ende das Buch einfach zuklappen und sich bequem zurücklehnen kann. Es soll sowohl Kinder als auch Erwachsene zum Nachdenken anregen und den Wunsch wecken, etwas verändern zu wollen. Dies hätte ich mit einem hoffnungsvolleren Ende nicht erreichen können. Mit Mias Geschichte wollte ich die Realität so deutlich wie möglich schildern und zeigen, was geschieht, wenn die gesamte Umwelt des misshandelten Kindes eine „Kultur des Wegsehens“ pflegt . Deshalb wäre es mir wie eine Lüge vorgekommen, wenn ich die Geschichte mit einem Happy End abgeschlossen hätte. Ich bin allerdings überzeugt, dass Kinder besser mit diesem Schluss zurechtkommen als die erwachsenen Leser. Wir Erwachsenen wollen Kinder immer beschützen und sie in rosarote Zuckerwatte packen, dabei wissen Kinder schon sehr genau, dass es schlimme Dinge im Leben gibt und man sie leider nicht immer ändern kann. Wenn „Das Reich der Tränen“ jedoch tatsächlich von einem betroffenen Kind gelesen wird, gibt es im Anschluss des Buches eine Liste mit Adressen, wo sie Hilfe finden können. Nachdem ich mich so viel mit dem Thema auseinandergesetzt habe, scheint mir dies der erste und wichtigste Schritt für betroffene Kinder zu sein: Die Möglichkeit, sich anonym bei jemandem zu melden und demjenigen sein Herz auszuschütten – ohne Angst vor Konsequenzen.

Dank des Epilogs hat aber auch Mias Geschichte ein versöhnliches Ende: Dort erlebt man Mia wie sie erwachsen und glücklich ist, sie hat ihre Hoffnung niemals aufgegeben, sich zu einem starken Charakter entwickelt und sich immer noch ihre Fantasie bewahrt, mit der sie als Schriftstellerin nun auch andere Kinder ins Reich der Tränen führen und ihnen Hoffnung schenken kann.

Was hat Sie bei Ihren Recherchearbeiten besonders betroffen gemacht?

Janine Wilk:

Ich muss sagen, dass mich am meisten die Masse an betroffenen Kindern schockiert hat. Erst wenn man sich mit dem Thema befasst, erkennt man, dass es sich nicht nur um ein paar wenige, bedauerliche Einzelfälle handelt, sondern dass Kindesmisshandlung weit verbreitet ist – und zwar in allen Gesellschaftsschichten, unabhängig von sozialer, ethnischer und intellektueller Herkunft.

Glauben Sie, dass die häusliche Gewalt gegenüber Kindern zugenommen hat? Wenn ja, haben Sie eine Erklärung dafür?

Janine Wilk:

Als Autorin möchte ich mir nicht anmaßen, dazu ein Expertenurteil abzugeben. Im Gegensatz zu meiner Generation, in der körperliche Disziplinarmaßnahmen noch einen Teil der Erziehung darstellten, werden solche Methoden heutzutage von der Gesellschaft zum Glück nicht mehr toleriert und dessen sind sich auch die meisten Eltern bewusst. Allerdings glaube ich, dass sich der Anteil der psychischen Kindesmisshandlungen erhöht hat, wobei die Dunkelziffer sehr hoch und statistisch kaum zu erfassen ist. Eltern fühlen sich in unserer Leistungsgesellschaft jedoch immer mehr gestresst, überfordert und dem Alltag kaum noch gewachsen – dies bekommen leider auch immer stärker die Kinder zu spüren.

Und last but not least, auch für Sie die letzten drei „Bücher leben!“-Fragen:

Wann schreiben Sie? (morgens, mittags, abends, immer)

Janine Wilk:

Durch meine schulpflichtigen Kinder läuft mein Alltag sehr geordnet ab und überhaupt nicht so, wie man sich landläufig das Leben eines Künstlers vorstellt. Ich schreibe tagsüber zu den „normalen Bürozeiten“, dazu kommen auch noch berufliche Telefonate und Emails oder Lesungen.

Wie schreiben Sie? (Laptop, per Hand, PC)

Janine Wilk:

Die ersten Ideen und Skizzen schreibe ich per Hand, danach arbeite ich ausschließlich am PC.

Wo schreiben Sie? (Arbeitszimmer, Küchentisch, Baumhaus, überall)

Janine Wilk:

Da ich zu den Autoren gehöre, die zum Schreiben absolute Ruhe brauchen, wird man mich wohl nie in einem Café bei der Arbeit antreffen. Ich schreibe ausschließlich daheim in meinem Arbeitszimmer – zu meinen Füßen mein Hund und rechts neben meinem Monitor schläft unser Kater an seinem Fensterplatz .

Sabine Hoß

 

 

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