Kurz-Interview mit Antonia Michaelis zu „Nashville oder das Wolfsspiel“

Sechs Fragen (mit Unterfragen) an Antonia Michaelis zu ihrem beeindruckenden psychologischen Thriller „Nashville oder das Wolfsspiel“

Kennst Du einen streunenden Jungen, der im Küchenschrank auf dem Kopf stehend in Dein Leben getreten ist – oder wer oder was hat Dich zu dieser Geschichte inspiriert?

Antonia Michaelis:

Nashville geistert schon lange in meinem Kopf herum, wobei er aber eben nicht auf seinem Kopf, sondern IN MEINEM Kopf stand. Nein, es gibt ihn nicht, nicht auf diese Weise. Er hat sich selbst erfunden und war einfach eines Tages da.

Die Verantwortung tritt immer plötzlich in unser Leben, jedenfalls kommt es einem so vor. Plötzlich ist man Mama. Eben war man doch noch Tochter? Plötzlich ist man die Dozierende vor den Studenten. Eben war man doch selbst noch Studentin? Plötzlich soll man wissen, wo es lang geht. Aber woher denn, bitte?

Du hast selber ebenfalls sieben Jahre lang Medizin studiert. Zeit genug, um die stereotypen Eigenheiten dieses Faches – samt Dozenten und den Mitstudierenden – zu recherchieren. Bei der Protagonistin Svenja habe ich den Eindruck, dass sie eine Art Hassliebe zu ihrem Studium empfindet.

Arbeitest Du da (mit Genuss?) Deine eigene Studienzeit auf? War es für Dich eine leichte oder eine Leidenszeit?

Antonia Michaelis:

Hihi, oh ja. Ich war immer der bunte Vogel, der sich nirgends einordnen ließ und dauernd zu spät kam. In den Vorlesungen habe ich geschlafen, weil ich nachts schrieb oder, später dann, gerade von irgendeiner Lesereise zurückgekommen war. (ein bisschen bin ich also eine Mischung aus Gunnar und Svenja) Und die kleinen Mädchen aus dem Präppkurs hießen wirklich alle mit K. Sie waren nett und freundlich, aber ich konnte sie nie auseinanderhalten. Sie haben tatsächlich Verzweiflungsanfälle bekommen, weil sie keine roten Holzstifte hatten, als der Prof etwas in rot an die Tafel gemalt hat (es war sowieso nur ein Strich). Und sie waren selbstverständlich über unsere Lebensweise entsetzt – wir waren ein kleiner farbenfroher Haufen an Studenten, die ein bisschen mehr vom Leben wollten als stupides Zeug auswendig zu lernen. (Früher, als es das noch gab, da hieß es „Studium generale“ und war erwünscht …) Und, ja, meine Mitbewohnerin hatte Gras im Fenster stehen. In ganz ordentlichen Töpfen. Die Polizei fuhr damals dauernd Runden durch das Dorf, in dem wir wohnten, genau an diesem Fenster vorbei, aber es hat sie nicht gestört.

Auch der Sadismus der Professoren – wie zum Beispiel, als der Prof beim Arm-Testat sagt: „Jetzt erzählen Sie uns mal was über das Bein“ – das musste einfach mal aufgeschrieben werden. Heute lachen wir darüber.
Damals haben über die Hälfte der Mediziner aufgehört, weil sie Nervenzusammenbrüche bekamen. Heute, fürchte ich, gibt es nur noch brave Studenten … bitte, sagt mir mal jemand, dass das nicht so ist?

(Das Leben ist eine lange Zugfahrt - Foto (c) Ralph Brugger)

(Das Leben ist eine lange Zugfahrt – Foto (c) Ralph Brugger)

Das „Lili Marleen“-Lied von Lale Andersen (1939) zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte.

Was fasziniert Dich so an diesem Lied und warum hast Du es gewählt?

Antonia Michaelis:

Ich habe mal gehört, wie ein Penner das in Tübingen gesungen hat. Völlig anders als die militärische Version, die man gemeinhin kennt. In meinem Auto läuft die Ulrich-Tukur-Version rauf und runter, eine ebenfalls sanfte, verträumte Lili Marleen. Aber trotz der Militärkapellen damals – ich meine, um dieses kitschige Liebeslied im Radio zu hören, haben im zweiten Weltkrieg beide Seiten für Momente still gestanden. Wow. Das Liebespaar unter der Laterne ist ein genauso unmögliches Paar, zukunftslos und irgendwie heimatlos, wie das Paar in „Nashville“. Denn neben der Milieustudie und dem angeblichen Thriller (nein ich kann NICHTS dafür dass da Thriller auf diesem Buch steht) ist dies ja auch ein Buch über die verschiedenen Facetten der Liebe, die bis auf einen einzigen Fall immer schief geht, immer unmöglich ist, nie glücklich ausgeht. Nur Thierry und Kater Carlo scheinen, für eine Weile, glücklich zu werden.

Wenn sich die späten Nebel drehn, werd ich bei der Laterne stehn … der eigentlich tote Soldat, der eigentlich tote Mann, da singt er, auf der Straße, selbst schon zwischen die Zeilen gerutscht. Hach, manchmal bin ich kitschig.

Im Trailer durfen wir das Lied aus GEMA-technischen Gründen dann nicht verwenden, wodurch Sirja, die Löwin – die Pennerin mit dem Akkordeon – verspätet ihr eigenes Lied bekommen hat. Ihre raue Straßenstimme zusammen mit der Kinderstimme mag ich auch sehr. Bezeichnender Weise findet das Lied kaum einer, es versteckt sich zwischen den Zeilen auf der Oetingerhomepage, auf Youtube und auf meiner Seite.

Das in dem Roman raffiniert eingearbeitete Wolfskarten-Spiel lässt sich auf das Geschehen und die Beziehungen der Figuren übertragen.

Welche Rolle ist Dir, im übertragenen Sinne, lieber – die des Wolfes oder die der Bürger – und warum?

Antonia Michaelis:

Natürlich bin ich ein Wolf. Ich finde brave Bürger gruselig. Man kann Leute mit Kuschelklositzen ersticken, wusstest Du das? (Und dass die braven Bürger die gefährlicheren Menschen sind, haben wir mehr als einmal bewiesen bekommen. 1933 haben sie alle Fahnen geschwenkt.) Im Spiel verurteilen und töten die Bürger jeden Tag einen Verdächtigen, der vielleicht ein Werwolf ist. Das ist schon mehr Allegorie, als ich selbst erfinden kann.

Dass ich einer von den bösen Außenseitern bin, die nachts herumlaufen und jugendverderbliche Bücher schreiben, wissen wir ja seit dem Märchenerzähler …

Wie lange hast Du an diesem Buch gearbeitet?

Länger oder kurzer als bei anderen?

Antonia Michaelis:

Ich glaube, ähnlich lange, zwei oder drei Monate. Aber diesmal hat die Recherche länger gedauert. Ich war zwar im Studium oft in Tübingen, weil mein Mann dort studiert hat, aber ich bin dann doch nochmal hingefahren, um genau nachzusehen, wo Svenja wohnt, wo die Leiche im Wald herumliegt, wo das Abbruchhaus ist … Und natürlich musste ich dringend die Kneipen nochmal alle durchprobieren. Wobei ich übrigens Thierry getroffen habe. Den gab es vorher in der Geschichte gar nicht.

Für den Trailer sind wir dann als Filmteam schon wieder da gewesen; es war seltsam, die Orte wiederzusehen, an denen inzwischen all diese Dinge um Nashville geschehen waren. Es fühlte sich sehr … wirklich an. Und wer hat sich als Leiche in den Wald gelegt? Erraten …

Was würdest Du tun, wenn Du plötzlich in Deinem Küchenschrank einen auf den Kopf stehenden Jungen (oder Mädchen) begrüßt?

(Bitte jetzt nicht mit „ich stelle mich ebenfalls neben ihm auf den Kopf“ antworten. DAS wäre zu einfach. 😉 )

Antonia Michaelis: Ich habe keinen Küchenschrank.

(ätsch)

Nein, ehrlich: Höre ich da die moralische Quotenfrage im Interview heraus? Da kann ich ja dann nur wieder was Falsches sagen …

(Anmerkung der Fragestellerin: Nein, eine moralische Quotenfrage hatte ich gar nicht im Sinn! 🙂 )

Wenn ich so alt wäre, wie Svenja, vermutlich das gleiche wie sie. Aber ich bin 16 Jahre älter als Svenja und habe zwei Kinder. Der erste Mensch, an den ich in so einem Fall denken würde, wäre gar nicht Nashville, sondern Lion: der Junge aus einem Kinderbuch von mir, der aus gutem Grund weggelaufen ist und furchtbare Angst hat, dass die Polizei ihn, wohlmeinend zwar, zu seinem gewalttätigen Vater zurückschleift. Der zweite Gedanke wäre, dass es durchaus auch bei uns illegale Asylanten gibt.

Ich würde es also mit etwas zu essen, zu trinken und dem Telefon versuchen – aber nicht, ganz bestimmt nicht, um die Polizei anzurufen. Ich würde meine beste Freundin anrufen, die  Kinderärztin im Krankenhaus in der nächsten Stadt ist (und die mit mir studiert hat …), und sie bitten, ganz außerhalb ihrer offiziellen Funktion zu kommen und sich das Kind anzugucken OHNE es irgendwo zu melden. Dann würde ich meine Mutter anrufen. Doch, wirklich, meine Mutter. Obwohl ich 16 Jahre älter bin als Svenja. Vielleicht hätte meine Mutter eine richtig gute Idee.

Viele Leser, gute, brave, liebe Leser – wollen das Kind sofort melden, abgeben, eintüten, wegbringen – beinahe möchte ich sagen: denunzieren. „Das ist doch illegal, so ein Kind bei sich zu haben!“ lese ich da. Tzt-tz-tz. Kopfstehen ist übrigens auch gefährlich, man kommt da auf Ideen. Das sollte gesetzlich SOFORT verboten werden.

Dass eine 18jährige auf die Dauer nicht alleine mit einem solchen Kind klarkommt, ist auch ein Fazit des Buches. Es geht ja spektakulär schief. Dass sie aber zumindest versucht, sich um Nashville zu kümmern, spricht meiner Meinung nach nicht gegen sie. Sicher hätte sie früher merken sollen, dass es nicht geht …

Ich höre auch oft, dass das doch unrealistisch ist, dass niemand von den anderen was sagt. Sie anzeigt. Oder ähnlich. Selbst die Erwachsenen. Aber es ist, ehrlich gesagt, viel leichter, wegzusehen, sich nicht einzumischen, die Sache zu vergessen. Leute mischen sich per se nicht gern ein.

Und was würde ich SPÄTER tun? Nachdem die Kinderärztin da gewesen wäre und mir gesagt hätte, dass das Kind nur unterernährt und nicht krank  ist? Nachdem ich, außerdem, herausgefunden hätte, dass es tragischer Weise „nirgendwo fehlt“? Ich muss sagen, ich weiß es nicht. Ich würde ihm vermutlich das Gästebett beziehen.

(Snowden darf auch kommen. Wir haben zwei Gästebetten.)

Sabine Hoß

Nachtrag:

Antonia Michaelis schreibt nicht nur Bücher, sie unterstützt auch in vielfältiger Weise Kultur- und Theaterprojekte mit Förderschüler. Aktuell ist es „Rauswählen – das Musical – East Side Story lebt weiter“. Mit einem Klick auf die wunderschöne strahlende Sonne „Kultur? Ja bitte“ freuen sich die Jugendlichen und alle Beteiligten über ihre Spende, und sei sie noch so klein, da die Projekte ehrenamtlich finanziert werden. Danke!

Und hier:  und hier: geht es mit Ihrer Unterstützung zur strahlenden Kultur-Sonne. 🙂

 

 

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