Interview mit Frau Dr. Stephanie Jentgens: Qualitätssicherung in der Leseförderung

Dr. Stephanie Jentgens (Foto (c) privat)

Dr. Stephanie Jentgens (Foto (c) privat)

 

Es ist kein Geheimnis, dass sich Schulen und andere Institutionen ehrenamtlicher Helfer bedienen, die die großen Lücken in der Leseförderung schließen oder die Verwaltung der Schulbibliothek übernehmen. Zum Thema Leseförderung und Ehrenamt gibt es in letzter Zeit sehr viel Klärungs- und Regelungsbedarf, der auch Diskussionen aufwirft.

Zum Punkt Qualitätssicherung innerhalb der Leseförderung und der neuen Qualifizierung des „Lese- und Literaturpädagogen“ beantwortete Frau Dr. Stephanie Jentgens, Mitarbeiterin beim Bundesverband Leseförderung (BVL) (Anmerkung: Bildbeschreibung Artikel S. 9, JuLit 2/12) und Dozentin der Qualifizierung Literaturpädagogik an der Akademie Remscheid in einem Mail-Interview meine Fragen.

Regina Pantos (AKJ-Vorsitzende von 2006-2012) sagte in ihrem Beitrag „Leseförderung hat ihren Preis“ (1) „ Ehrenamtler im Bereich der Leseförderung kommen zum Teil aus pädagogischen Berufen. Das kann von Vorteil sein. Viele haben aber auch keine einschlägige Vorbildung. Wenn sie nicht Profis sind, sondern Dilettanten, dann sollten sie es im positiven Sinne dieses Begriffes sein. Ein Dilettant kann per definitionem ein Nichtfachmann sein, der sich als Liebhaber um seine Sache bemüht und ein Stümper. Stümper dürfen wir Kindern nicht zumuten.“

Hier stellen sich die Fragen, wie und wodurch grenzt sich ein hoch engagierter, begeisterter dilettantischer Nichtfachmann vom sogenannten Stümper ab und wirkt diese Bezeichnung nicht für jeden ehrenamtlichen Mitarbeiter wie eine Ohrfeige??

Dr. Stephanie Jentgens:

Ich freue mich, dass eine öffentliche Diskussion durch Ihre Fragen angeregt wird und bin froh darüber, dass ich Gelegenheit habe, auch ein paar Missverständnisse aufzuklären.

Zunächst möchte ich klar stellen, dass ich nicht „Mitarbeiterin“ des Bundesverbandes Leseförderung bin, sondern Mitglied. Ihre Fragen beantworte ich in meiner Funktion als Dozentin der Akademie Remscheid, die die erste rund 600 Einheiten (Unterrichtsstunden und Selbstlernphasen) umfassende Qualifizierung Literaturpädagogik entwickelt hat. Die Fortbildungen an der Akademie Remscheid sind berufsbegleitend, insofern trifft die Frage nach dem ehrenamtlichen Engagement nicht unbedingt die Zielgruppen meiner Angebote. Allerdings habe ich in meinen Kursen auch Teilnehmerinnen, deren  zunächst ehrenamtliche Tätigkeit sich in ein bezahltes Arbeitsverhältnis gewandelt hat.

Zu der Verwendung des Begriffs „Stümper“ sollte Frau Pantos besser selbst Stellung nehmen. Ich möchte in keiner Weise die Arbeit von ehrenamtlich engagierten Menschen missachten. Zugleich bin ich der Ansicht, dass nichts so zukunftsträchtig und gesellschaftlich wichtig ist wie die Unterstützung von Kindern. Der qualitative Anspruch sollte hier stets hoch sein.

Der Bundesverband Leseförderung (BVL) sieht die Notwendigkeit, die verschiedenen Berufsbezeichnungen der freiberuflichen Leseförderer in einer klar definierten Berufsbezeichnung, die sich mit klaren Rahmenbedingungen von den ehrenamtlich Tätigen hervorhebt, zu standardisieren: Der zertifizierte und qualifizierte Lese- und Literaturpädagoge.

(2) „Das Angebot wendet sich insbesondere an Personen mit pädagogischen oder leseaffinen Berufen wie Erzieher, Lehrer, Sozialpädagogen, Buchhändler und Bibliothekare .“

Die Voraussetzung für die Teilnahme an der Qualifizierung ist ein abgeschlossenes Hochschul- oder Fachhochschulstudium (sowie die Teilnahme an der Fortbildung „Kinder und Jugendliteratur praktisch“).

Dr. Stephanie Jentgens:

Ein abgeschlossenes Hochschul- oder Fachhochstudium ist nicht Voraussetzung für die Teilnahme an der Qualifizierung Lese – und Literaturpädagoge des BVL. Es werden auch adäquate Leistungen anerkannt, wie z.B. eine langjährige Berufserfahrung im Buchhandel.

Die Teilnahme an der Fortbildung „Kinder- und Jugendliteratur praktisch“ ist Voraussetzung für die Qualifizierung Literaturpädagogik an der Akademie Remscheid.

Was macht ein engagierter und sehr interessierter Buchhändler oder ein liebhabender Nichtfachmann, ohne abgeschlossenes Studium, der aber durchaus große Erfahrung, intensives Basiswissen und hohes Engagement mitbringt?

Dr. Stephanie Jentgens:

Wenn er Interesse hat, die Literaturpädagogik zu seinem Berufsfeld zu machen, kann er z.B. an der Akademie Remscheid die Qualifizierung Literaturpädagogik absolvieren. Für den Abschluss des BVL ist es  möglich, an verschiedenen Institutionen Fortbildungen für die Qualifizierung zu besuchen.

Doch wer soll die Kosten für diese Qualifizierung tragen? Wenn ich eine engagierte Buchhändlerin bin, der Arbeitgeber? – Wohl kaum oder nur in sehr seltenen Ausnahmefällen.

Wenn ich der bemühte Nichtfachmann bin – als Privatperson? Denkbar schlecht.

Dr. Stephanie Jentgens:

Für ehrenamtlich engagierte Menschen, die z.B. als Vorlesepaten tätig sind, sollten Fortbildungen möglichst kostenfrei sein. Sie sollten durch eine gute Begleitung und Förderung für ihr Engagement belohnt werden.

Der „bemühte Nichtfachmann“ gehört aus meiner Sicht nicht zur Zielgruppe der Qualifizierung. Die Qualifizierung dient der Entwicklung einer beruflichen Fachkompetenz, insofern ist es selbstverständlich, dass Kosten entstehen. Aus meiner 17-jährigen Berufspraxis als Fortbildnerin kann ich sagen, dass viele Arbeitgeber die Kosten für die Fortbildung „Kinder- und Jugendliteratur praktisch“ übernommen haben, weil sie an der Qualifizierung ihrer Mitarbeiter/innen in Bibliotheken, Fachschulen oder Kindergärten interessiert waren und hierdurch eine positive Entwicklung in der jeweiligen Berufspraxis erreichen konnten.

Zertifizierung, verbindliche Standards für eine qualifizierte Leseförderung ist schön und gut. Doch wer garantiert mir nach einer zweijährigen und kostspieligen Ausbildung, dass ich für diese Erweiterung der Kenntnisse in Literaturtheorie und –praxis und Methodenvielfalt an Schulen oder anderen Institutionen honoriert werde?

Sind denn auch entsprechende feste Stellen für die ausgebildeten Literaturpädagogen von der Politik vorgesehen?

Dr. Stephanie Jentgens:

Es wäre schön, wenn wir bereits so weit wären. Wir befinden uns in der Literaturpädagogik an einem ähnlichen Punkt wie vor ca. 25 Jahren die Theaterpädagogik. Heute ist das Berufsfeld der Theaterpädagogen bekannt und profiliert. Im Bereich der Literaturpädagogik arbeiten wir noch daran, darum hat sich u.a. der Bundesverband Leseförderung gebildet. Aufgrund der großen gesellschaftlichen Bedeutsamkeit der Schlüsselqualifikationen, deren Förderung Anliegen der Literaturpädagogik ist, bin ich optimistisch, dass dieses Arbeitsfeld sich durchsetzen wird. Am Beispiel meiner Kursteilnehmer/innen sehe ich dies bereits bestätigt. Sowohl im institutionellen Rahmen als auch für die freiberufliche Tätigkeit finden die Absolventen/innen der Qualifizierung Anerkennung und bezahlte Arbeitsaufträge.

Zwei Jahre für diese Qualifizierung halte ich persönlich für einen zu langen Zeitraum neben einer begleitenden beruflichen Tätigkeit. Wäre es nicht sinnvoller, die Ausbildung zu komprimieren und auf ein Jahr zu verkürzen?

Dr. Stephanie Jentgens:

Parallel zur Berufstätigkeit ist es den meisten Teilnehmern/innen nicht möglich, mehr als zwei (maximal drei) Kurswochen im Kalenderjahr zu besuchen. Mit dem Angebot des BVL wird es vielleicht möglich werden, die Qualifizierung schneller zu absolvieren, indem man die Angebote mehrerer Fortbildungsinstitute kombiniert.

 Ziel dieser Ausbildung ist es unter anderem, dass die qualifizierten Literaturpädagogen den ehrenamtlichen Lesepaten unterstützen, (3)  „sie über aktuelle Kinderliteratur informieren, ihnen eine pädagogische Grundhaftung vermitteln und sie in ihrem Anliegen unterstützen, die eigene Begeisterung für das Lesen und die Literatur weiterzugeben.“

Ich gebe dabei zu bedenken, dass sehr viele ehrenamtliche Leseförderer durchaus einen guten Überblick über die aktuelle Kinderliteratur haben und sie würden nicht ehrenamtlich = ohne Honorar! die Freude am Lesen und an der Literatur weitergeben, wenn sie nicht absolut begeistert wären. Die Vermittlung der pädagogischen Grundhaftung sehe ich an Schulen bei den Lehrern.

Das klingt so, dass am Ende doch wieder die unbezahlten ehrenamtlichen Lesepaten die Arbeit machen, aber von einem qualifizierten und honoriertem Literaturpädagogen im Hintergrund „beraten“ werden?

Dr. Stephanie Jentgens:

Ich kann es nur begrüßen, wenn ehrenamtliche Leseförderer einen guten Überblick über die aktuelle Kinderliteratur haben und sich dafür begeistern, ihre eigene Lesefreude weiterzugeben. Wer den Überblick angesichts von tausenden Neuerscheinungen behält, hat meine Hochachtung und braucht auf diesem Gebiet vielleicht keine Fortbildung.

Jeder Ehrenamtliche sollte entscheiden, wo er Fortbildungsbedarf für sich sieht. Er sollte aus einem guten Angebot auswählen können. Bei dieser Entscheidung kann übrigens eine gute Beratung auch helfen.

Ich finde es schade, dass Sie den Begriff  „beraten“ mit einem negativen Anklang belegen. Beratung kann eine hoch komplexe und sehr positive Tätigkeit sein, bei der man versucht herauszufinden, was das Gegenüber braucht und wie dies am besten zu erreichen ist. Beratung von ehrenamtlichen Lesepaten bedeutet für mich z.B., dass die Lesepaten jemanden haben, an den sie sich bei der Planung ihrer Tätigkeit, bei Problemen – sei es pädagogischer, organisatorischer oder inhaltlicher Art – wenden können.

Zur Frage der pädagogischen Grundhaltung: Die Schulpädagogik hat ihre eigenen Rahmenbedingungen und Zielrichtungen, die nicht unbedingt auf die Literaturpädagogik zu übertragen sind. In der Literaturpädagogik geht es z.B. nicht um Notengebung. Sie trägt nicht das manchmal doch sehr eng geschnürte Korsett der Schule und kann von den Erfahrungen der außerschulischen Pädagogik profitieren.

Noch wird die Weiterbildung nicht in allen Bundesländern angeboten. Bis jetzt in Dortmund und der Akademie Remscheid, in Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. Im November 2011 haben die ersten Teilnehmerinnen die Qualifizierung beendet.

Wie viele Frauen und wie viele Männer haben bisher die Ausbildung begonnen, bis zum Schluss durchgehalten und erfolgreich mit der zentralen Prüfung (schriftliche Abschlussarbeit und Kolloquium) abgeschlossen – und eine entsprechende honorierte Stelle bekommen?

Dr. Stephanie Jentgens:

Da das Angebot noch völlig neu ist, gab es bisher nur an der Akademie Remscheid Teilnehmerinnen, die alle Anforderungen der Qualifizierung Literaturpädagogik erfüllt und das Kolloquium erfolgreich absolviert haben. Diese sieben Absolventinnen arbeiten in Bibliotheken (mit Festanstellung) oder sind freiberuflich als Literaturpädagoginnen, u.a. für das Deutsche Jugendinstitut, tätig, eine hat eine Anstellung an der Universität.

Jugendstil in Dortmund bietet Bausteine für die Qualifizierung an, aber nicht die gesamte Fortbildung.

Wie sehen die Zukunftsaussichten dieser Ausbildung Ihrer Meinung nach in den nächsten 5 Jahren aus?

Dr. Stephanie Jentgens:

Zur Zeit habe ich 26 Teilnehmer und Teilnehmerinnen in der Fortbildung „Kinder- und Jugendliteratur praktisch“, von denen ein großer Teil die gesamte Qualifizierung durchlaufen möchte. Insofern blicke ich optimistisch in die Zukunft, was das Interesse an der Qualifizierung angeht.

Ich hoffe, dass wir mit Unterstützung des BVL auch eine politische Lobby für die Literaturpädagogik schaffen können, so dass es – vermutlich noch nicht in fünf, aber vielleicht in zehn Jahren – auch Stellen für Literaturpädagogen geben wird.

Vielen Dank Frau Dr. Jentgens für Ihre Zeit und interessanten Antworten. Ich wünsche Ihnen und Ihren Projekten weiterhin viel Erfolg!

Sabine Hoß

Anmerkung: Die kursiv gesetzten Zitaten sind aus folgenden Beiträgen  der JuLit-Ausgabe 2/12 entnommen:

(1) Regina Pantos „Leseförderung hat ihren Preis“

(2)  Barbara Knieling „Individuell und passgenau“

(3) Stephanie Jentgens „Nachfrage regelt das Angebot

 

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