Interview mit Marie-Aude Murail

In Frankreich gehört Marie-Aude Murail schon seit vielen Jahren zu eine der erfolgreichsten und bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen. In Deutschland wurde sie spätestens durch ihr Buch „Simpel“ bekannt, für das sie 2008 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt. Trotzdem gibt es hierzulande nur sehr wenige Interviews mit der Autorin und die wenigen sind meist auf Französisch. Umso mehr freue ich mich, dass sich die sympathische Autorin für „Bücher leben!“ Zeit für ein ausführliches Interview genommen hat.

Damit das Interview nun auf Deutsch lesbar ist, möchte ich mich für die unkomplizierte und tatkräftige Unterstützung bei folgenden Personen ganz herzlich bedanken:

Übersetzung/Traduction meines Interviews ins Französische:

Laurence Hamels (www.laurencehamels.com), Übersetzerin und Dozentin an der Universität B-Lüttich und ihre Studentinnen Evelyne Beaupain, Emmanuelle Defossez, Véronique Mercier et Sandra Scholzen, étudiantes de Master 1 en traduction à la Haute École de Liège – Université de Liège, Belgique. Und natürlich ein Dank an meine liebe Verlags-Kollegin Karoline Drechsel für diese Vermittlung.

Marie-Aude Murails Antworten wurden von Tobias Scheffel ins Deutsche übertragen, worüber ich mich sehr gefreut habe, denn er ist nicht nur ein vielfach ausgezeichneter (u.a. mit dem Deutschen Jugendliterturpreis 2011 in der Kategorie Sonderpreis für Übersetzung) sondern auch der Übersetzer all ihrer Bücher beim Fischer Verlag.

Marie-Aude Murail, geboren am 6. Mai 1954 in Le Havre, zählt zu den erfolgreichsten und beliebtesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen in Frankreich. Sie stammt aus einer Schriftstellerfamilie; ihre Mutter war Journalistin, ihr Vater Dichter. Marie-Aude Murail studierte Philosophie und Literatur und promovierte in Literatur rsp. Neuer Philologie zum „Docteur ès lettres“ (vgl. Dr. phil.). Nach Stationen in Paris, Bordeaux lebt sie heute in Orleáns. In Deutschland wurde sie bekannt mit dem Buch „Simpel“, das 2008 von der Jugendjury mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Ihre Bücher präsentieren oft turbulenten Familiensituationen, Außenseiter mit einer ironischen, auf den Punkt gebrachten klaren Sichtweise. Beispiele: „So oder so ist das Leben“, „Über kurz oder lang“,  „Vielleicht sogar wir alle“ oder „Drei für immer“. (Alle Fischer Verlag, alle übersetzt von Tobias Scheffel.) Zuletzt hat Mme Murail mit dem Thriller „Blutsverdacht“ (Fischer, 2012) überzeugt.

 

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Marie-Aude Murail (Foto (c) privat)

 

Mme Murail, in Deutschland gibt es die Unterteilung Kinderbuch, Jugendbuch und „all age“.

Gibt es diese drei Kategorien auch so in Frankreich, was halten Sie persönlich von diesen Schubladen und in welcher Gruppe würden Sie ihre Bücher einordnen???

Mme Murail:

Ich würde mich neben den Gebrüdern Grimm in der Kategorie Kinder- UND Hausmärchen einordnen.

In Frankreich sind Sie schon lange vor „Simpel“ eine bekannte und erfolgreiche Autorin gewesen. In Deutschland ist man erst 2007 durch dieses Buch auf Sie aufmerksam geworden.

Hat der Übersetzer Tobias Scheffel Sie für den deutschen Markt entdeckt?

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Sie erst so spät in Deutschland bekannt wurden?

Mme Murail:

Mein erster deutscher Erfolg war in Wahrheit „Babysitter-Blues“, übersetzt von Hans-Georg Noack, der selbst Kinder- und Jugendbuchautor war. Aber die vollständige Anerkennung kam erst dank „Simpel“, der sowohl mit dem „Prix de lycéens allemand“ wie auch dem Deutschen Jugendliteraturpreis in Frankfurt ausgezeichnet wurde. Das Talent von Tobias hat sein Übriges getan …

Welche meiner Bücher wann an ausländische Verlage verkauf werden, ist ein Geheimnis, das ich nicht durchschaue. Dazu muss die richtige Person zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein.

Oft sind Ihre jugendlichen Protagonisten Außenseiter, sie stehen am Rande der Gesellschaft und kämpfen mit nicht alltäglichen Problemen.

Warum liegen Ihnen diese Menschen so am Herzen und wie gelingt die stets natürliche und sehr nahe Identifikation mit den Charakteren und Themen?

Mme Murail:

Wenn ich lese, suche ich Personen, die ich mögen kann – sie sind nicht zwangläufig liebenswürdig. Ich mag den Caligula von Albert Camus. Wenn ich schreibe, so gilt meine Vorliebe irritierenden Figuren, das kann ein geistig Behinderter, ein Homosexueller, ein kleines fünfjähriges Mädchen sein. Und meine jungen Leser – seien es Deutsche oder Franzosen – identifizieren sich mit diesen Figuren auf ganz „natürliche“ Weise. Sie wissen, warum, sie das tun – nicht ich.

Sie decken oft in Ihren Roman familiäre und gesellschaftliche Verhalten klar, präzise und mit einer feinen und ganz besonderen Note von ironischem Humor auf. Tragisches mit Humor zu verbinden, das fällt den Deutschen recht schwer, auch in der (Jugend-) Literatur.

Sind die Franzosen da mutiger und offener?

Mme Murail:

Nun, ich werde die Klippe des Chauvinismus umschiffen, indem ich Ihnen antworte, dass mein Lieblingsautor Charles Dickens ist. Er hat mir geraten, „tragische und komische Szenen so regelmäßig abzuwechseln wie die roten und weißen Streifen eines gut gespickten geräucherten Schweinefleischs.“ Mein Rezept ist also ein britisches …

Wie schwierig ist es, mit dieser besonderen Note von augenzwinkernder Ironie nicht in bösen Spott abzurutschen?

Mme Murail:

Hierfür hat meine Mutter mir das Rezept gegeben, als sie mir sagte, die beiden schönsten Wörter der Sprache seien LIEBE und HUMOR.

Was ist Ihnen wichtiger bei Ihren Roman, die moralische Botschaft oder der Humor – oder geht das eine nur mit dem anderen?

Mme Murail:

Der Humor stammt von mir. Die moralische Lehre zieht der Leser. Und ich hoffe, ich mache keinen schulmeisterlichen Eindruck auf Sie, wenn ich Ihnen mit einem weiteren Zitat komme: „Wenn der Leser aus einem Buch nicht die moralische Botschaft zieht, die sich darin befinden soll, so ist der Leser ein Dummkopf oder das Buch ist falsch.“ Gustave Flaubert.

In vielen Romanen gibt es turbulente zuweilen chaotische Familienverhältnisse. Kennen Sie persönlich solche Familienszenen?

Mme Murail:

Oh, oh, geht es Ihnen wie meinen jungen Lesern, die unbedingt wissen wollen, „ob die Geschichte wahr ist“? Based on a true story, wie es bei amerikanischen Filmen im Vorspann heißt … 😉

Mein Familienleben ist kein Schlachtfeld – ich habe dieselben Scherereien wie jeder andere auch und das liefert schon Einiges an Romanmaterial. Ansonsten habe ich noch die Möglichkeit zu erfinden.

In Ihrem Roman „Über kurz oder lang“, geht es um einen Jugendlichen, der während eines Praktikums zum Entsetzen seines Vaters die Liebe zum Friseurhandwerk findet. Hier spielen Sie gekonnt mit Klischees und demontieren gleichzeitig typische Vorurteile dieses Berufes.

Fällt Ihnen so etwas leicht oder ist das ein hartes Stück Arbeit?

Mme Murail:

Wenn ich mich entscheide, eine Geschichte zu erzählen, so deshalb, weil sie mich – ohne dass ich sie WIRKLICH erlebt hätte – betrifft. Zur Frage, was eine manuelle Tätigkeit ist, hatte ich etwas zu sagen: Meine Großmutter war Schneiderin und ihr Mann Bildhauer, beide arbeiteten mit ihren Händen, wo ist die Trennlinie? Ich bewundere beide.

Wie auch in dem aktuellen Roman „Der Babysitter-Profi“ scheinen die jugendlichen Protagonisten gegenüber den Erwachsenen mehr Durch- und Überblick zu haben. Sie lassen aber dann im Laufe der Geschichte den Charakteren gleichermaßen den Raum, aus ihren Fehlern zu lernen und sich zu entwickeln. Das zeugt von feinfühliger, genauer Beobachtungsgabe, wie junge Menschen denken und fühlen. Woher kommt diese Nähe?

Mme Murail:

Wie der Schöpfer des „Kleinen Prinzen“ sagt: „Alle großen Leute sind einmal Kinder gewesen, aber wenige sich daran“. Ich glaube, ich habe weder meine Kindheit, noch meine Jugend vergessen. Und um eine Verbindung zur Welt der heutigen Jugendlichen zu haben, reicht es aus, sich zu informieren. Mit drei Kindern und sechs Enkeln habe ich ein gutes Informantennetz.

Wenn Sie auf Lesungen jungen Menschen begegnen, über was freuen Sie sich, über was wundern Sie sich und über was sind Sie immer wieder berührt?

Mme Murail:

Worüber ich mich freue? Dass sie mich gelesen haben. Worüber ich mich wundere? Dass sie es gemocht haben. Was mich immer wieder berührtt? Dass sie es mir sagen. Aber nach ein paar Minuten in ihrer Gesellschaft, vielleicht sogar nur ein paar Sekunden, dreht sich mein Bedürfnis, geliebt zu werden, um, so wie eine Sprungwelle die Strömung eines Flusses umdreht, und ich fühle mich von ihrem Wunsch, anerkannt, geschätzt und angehört zu werden, überwältigt.

Sie sind eine facettenreiche Schriftstellerin, die bei Real-sozialkritischen Themen genauso erfolgreich ist, wie zum Beispiel bei der Umsetzung der historisch angelehnten und erfundenen Biographie von Beatrix Potter oder aktuell Ihrem ersten Thriller.

Ist das der große Reiz für Sie, sich in verschiedenen Genres auszuprobieren?

Mme Murail:

Ja, das ist ein bisschen wie bei Kindern, die sich provozieren: „Schaffst du das?“

Sind Sie eine disziplinierte und strukturierte Schreiberin, d.h. gibt es feste Schreib- und Erholungszeiten?

Mme Murail:

Es passiert mir, dass ich ein halbes Jahr keine Geschichte erzähle, dass ich nicht einmal das Bedürfnis habe, es zu tun. Meine einzige Disziplin (und das einzige, was mich strukturiert) ist, dass ich weiter lese.

Stehen zu Beginn eines Buches schon die Handlung und die Charaktere der Protagonisten fest oder lassen Sie beides während des Schreibens sich entwickeln?

Mme Murail:

Wenn ich eine Geschichte beginne, kenne ich nicht alle Einzelheiten der Handlung und auch nicht alle Wesenszüge meiner Figuren – es wäre langweilig, wie bei einem Diktat zu schreiben. Ich weiß sowieso nicht so recht, wann ich beginne, ein Buch zu schreiben. Ich denke oft an Racine, der auf die Frage eines Freundes, wie weit er mit seiner nächsten Tragödie sei, antwortete: „Ich bin fast fertig. Ich muss sie nur noch schreiben.“

Und auch für Sie die typischen drei letzten „Bücher leben!“-Fragen zum Schluss:

Wann schreiben Sie? (morgens, mittags, abends, immer)

Mme Murail:

Wann es passt und nie lange am Stück.

Wie schreiben Sie? (Laptop, per Hand, PC)

Mme Murail:

Am Anfang auf Papier. Das ist weniger einschüchternd.

Wo schreiben Sie? (Arbeitszimmer, Küchentisch, Baumhaus, überall)

Mme Murail:

Ich schreibe im Kopf, und dann, sobald ich Papier finde, auf Papier.

Sabine Hoß

(Deutsche Übersetzung der Antworten von M.-A. Murail von Tobias Scheffel)

 

 

 

 

 

 

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