abends um 10

Kate di Goldi

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

Carlsen, März 2011

336 Seiten, €  16,90

„all age“

 

Die Autorin stammt aus Neuseeland und dieses ist ihr erster Roman auf Deutsch und ihr ist mit diesem Debüt ein durch und durch überzeugender, facettenreicher Roman gelungen. Ihr jugendlicher Held, der 12-jährige Frankie, nimmt die Leser ganz unmittelbar von der ersten Seite an für sich ein. Frankie gehört nämlich zur Sorte der „Rara Avis“, das behauptet zumindest seine Großtante Alma am Ende des Buches, als Frankie völlig verzweifelt bei ihr Rat und Trost sucht. Das bedeutet: ein seltener Vogel. Und damit trifft sie den Nagel auf den Kopf.

Frankie hat eine ältere Schwester, die noch mit ihm bei den Eltern lebt und einen älteren Bruder, der bereits ausgezogen ist, aber regelmäßig nach Hause kommt. Es gibt drei herrliche Großtanten, die alle 14 Tage zum Essen kommen, sehr lustige, ausladend gebaute Frauen, die Frankies Mutter nach dem Unfalltod ihrer Eltern aufgezogen haben. Frankies Mutter leidet seit diesem Schockerlebnis an einer psychischen Erkrankung und kann das Haus nicht mehr verlassen. Als Frankie 6 Jahre alt war, hatte sie einen Zusammenbruch und Frankie wohnte zur Entlastung des Vaters damals eine Zeit lang bei den Tanten. Inzwischen hat sich seine Mutter soweit stabilisiert, dass sie von zu Hause aus eine kleine florierende Konditorei betreibt. Allerdings geht sie nach wie vor niemals aus dem Haus und der Vater und Frankie erledigen die meisten Einkäufe. Frankie ähnelt seiner Mutter in vieler Hinsicht, er ist ebenfalls ein Typ der sich schnell Sorgen macht und inzwischen leidet er sehr unter der Situation, er baut ein extremes Verantwortungsgefühl auf. Das geht so weit, dass er vermeidet über Nacht nicht zu Hause zu sein, weil er fürchtet, dass seine Mutter darunter leiden könnte, wenn ihr Gespräch „Abends um 10“ ausfallen könnte. Frankie hat einen großartigen Freund: Gigs. Mit ihm erlebt er die wunderbare Konstanz und Verlässlichkeit einer Kinderfreundschaft, sie spielen die Bubenstreiche, die jeder von uns auf seine Art kennen sollte, sie haben eine gemeinsame Geheimsprache und ihre Rituale. Dann taucht Sydney auf, eine neue Klassenkameradin und Frankie ist stante pede von ihr fasziniert. Zwischen den beiden entsteht eine sehr feine und gekonnt beschriebene freundschaftliche Beziehung. Besonders wohltuend ist die Tatsache, dass Gigs nicht in Eifersucht entbrennt und Frankie Probleme oder Vorhaltungen macht, sondern Sydney auf außerordentliche Art in ihrer beider Leben Einzug halten lässt. Sydney ist aber auch ein besonderes, ein feinfühliges Mädchen und sie findet auch sehr schnell den Weg in Frankies Herz, indem sie ihn genau auf das anspricht, was ihm Sorgen bereitet und nicht vor Peinlichkeiten halt macht. Leider lebt auch Sydney in schwierigen Verhältnissen. Der Vater wohnt in Amsterdam und Sydney (mit zwei kleinen Halbschwestern, auf die sie ständig aufpassen muß) bei der wankelmütigen und ziemlich egoistischen Mutter, die keiner geregelten Arbeit nachgeht, sondern sich von wechselnden Männern finanzieren lässt. So kommt schneller als geplant der nächste Umzug und diese Nachricht trifft Frankie wie ein Keulenschlag, der bei dem Jungen alles zum Einsturz bringt. Jetzt kann nur noch Tante Alma helfen und das tut sie, so gut es geht.

Ein außergewöhnliches Buch über einen Jungen, der durch die psychische Erkrankung seiner Mutter über die Maßen in Mitleidenschaft gezogen wird. Der sicher auch durch die Ähnlichkeit der Charaktere selbst gefährdet ist, was aber zum Glück zum Ende hin klar wird und er Hilfe bekommt. Mir hat besonders die Charakterisierung der gesamten Familie Spaß gemacht, denn hier begegnen uns ganz herausragende Persönlichkeiten, die unglaublich originell dargestellt werden. Frankies Situation wird so feinfühlig und doch sehr akribisch und ausführlich geschildert ohne je zu langweilen, das beeindruckt einfach. Und auch die anderen Familienmitglieder und ihre Position im Familiengefüge sind so genau beschrieben, dass man sie zu kennen meint und ihre Stimmen hört. Ich bin begeistert!

Britta Kiersch, Buchhändlerin & „Lesezeichen“

 

 

 

 

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