Die Unausstehlichen & ich – Das Leben ist ein Rechenfehler (Band 1)

Vanessa Walder

Illustriert von Barbara Korthues

Loewe, Juni 2019

272 Seiten, Euro 12,95

ab 10 Jahren

 

 

„Die Unausstehlichen und ich – Das Leben ist ein Rechenfehler“ wird vom Verlag als Große Literatur angepriesen, die mit einem authentischen, einfühlsamen Einblick in die Gefühlswelt von Heimkindern bzw. Kindern, die in Pflegefamilien leben wiedergibt. Ein hoher Anspruch für ein Kinderbuch ab 10 Jahren, das mich sehr neugierig gemacht hat, da ich beruflich in diesem Bereich arbeite.

Ennie hat es bisher in ihrem Leben nicht einfach gehabt und war schon in einigen Pflegefamilien. Jetzt fühlt sie sich bei den Haagens sehr wohl und mit ihrem Pflegebruder Noah versteht sie sich sehr gut. Da Ennis Pflegefamilie aus beruflichen Gründen in die Schweiz ziehen muss, muss das leicht rebellische Mädchen in ein abgelegenes Internat mitten in den Bergen, das man „vordergründig“ nur mit einer Gondel erreichen kann. Die Einrichtung Saaks ist ein sehr teures Internat und Ennie ist hier dank eines Stipendiums. Ennie vermisst ihren Pflegebruder Noah und versteht gar nicht, warum sie nicht mit in die Schweiz gehen konnte. In Saaks will sie sich gar nicht erst einleben und findet es ziemlich doof, dass sie für jedes Schimpfwort 50 Cent zahlen muss inklusive Strafarbeiten. Ennie mag zwar auf Anhieb den Jungen Dante, der im Rollstuhl sitzt und freundet sich mit ihm an, doch sie bleibt bei ihrem Plan, ziemlich schnell von Saaks abzuhauen. Als Dante und seine Freunde die Idee haben, heimlich zum Magic Place Park zu fahren, weil sie unbedingt mit dem Final Destroyer, ein atemberaubendes Gefährt, eine Runde drehen wollen, entschließt sich Ennie, den Jungs zu helfen. Natürlich gibt es auch mit Lilith eine intrigante Gegnerin die droht, das Abenteuer auffliegen zu lassen. Damit sie in die Schweiz kommt, besorgt sich Ennie mit Unterstützung des kleinen Sohnes einer Mitarbeiterin von Saaks den Reisepass der Tochter der Internatsleiterin – der sie – wie durch Zufall sehr ähnelt. Natürlich gelingt es der Gruppe auf abenteuerlichen Wegen die Fahrt in den Magic Place Park und auf den Final Destroyer, danach werden sie aber von der Polizei aufgegriffen und wieder nach Saaks zurückgebracht.

Und wie sollte es anders sein, hat Enni bei diesem Abenteuer erlebt, wie toll doch ihre neuen Freunde und Saaks sind und will erst einmal dort bleiben. Auch, wenn man für jedes Schimpfwort 50 Cent zahlen und Strafarbeiten machen muss.

Enni erzählt diese Geschichte aus ihrer Sicht dem „Psychoonkel“ Dr. Mergen, was bedeutet, dass ziemlich viele Schimpfwörter ins Spiel kommen, die im Text mit variantenreichen Zeichnungen gestrichen werden, gleich dem überlegten „Pieps“ bei Tonmitschnitten. Eigentlich soll das witzig sein, aber schon nach kurzer Zeit nervt diese anbiedernde, übertriebene und künstlich wirkende Kinder-/Jugend-Sprache. Die Hintergründe, warum Ennie überhaupt in einer Pflegefamilie lebt, bleiben unbekannt.  Wie man mit ihr umgeht, als der Pflegevater eine Stelle in der Schweiz angeboten bekommt und Ennie ohne weitere Erklärung in eine andere Einrichtung steckt, sind so inhaltlich leer wie haarsträubend dahergezogen, dass es unfassbar ist, dieses Buch mit „großer Literatur“ und einem „authentischen, einfühlsamen Einblick“ in dieser Thematik zu bewerben.

Die Stellen, in denen Enni dem Leser ihre verletzte Kinderseele offenbart, sind so selten, dass sie in dieser völlig konstruierten und überzogenen Story untergehen. Hier versucht man, das sensible Thema Pflege- und Heimkinder und die schwierige, belastete Innensicht und Gefühlswelt dieser Kinder mit einer Mischung aus effekthaschender und realitätsarmen Story, blassen und klischeebesetzten Charakteren (wie der Anstaltsleiterin) wiederzugeben, was daran scheitert, weil man diese Kinder (und das Thema) damit nicht ernst nimmt.

Sicher ist es eine heitere Geschichte mit einem scheinbar taffen Mädchen, aber wenn man das Buch damit bewirbt, einen „authentischen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt von Heim- und Pflegekinder zu vermitteln“, darf man diese nicht mit einer überzogenen Story, oberflächlichen Figuren und einer schlecht kopierten Mischung von Internatsgeschichten wie Hanni und Nanni und Burg Schreckenstein gleichsetzen.

Oder um es mit Ennis Worten zu sagen, die Mathe über alles liebt:

Manchmal geht eine Gleichung nicht auf, wenn man für ein sensibles Thema, mit dem Kinder ernst genommen werden wollen, auf X = Effekt, Unreales und Überzogenes setzt.

Dieses Buch ist leider ein großer Rechenfehler, das auch noch als Reihe aufgebaut und geplant ist.

Die Illustrationen von Barbara Korthues sind schön anzuschauen.

Sabine Wagner

 

Eine weitere Meinung zu diesem Buch von Christian Dreiack, Fachberater für Pflegefamilien, Maria im Tann, Zentrum für Kinder-, Jugend- und Familienhilfe in Aachen:

Das Buch ist weit von der alltäglichen Realität von Pflegekindern entfernt und hebt sich vorsätzlich ab, indem das Mädchen in eine elitäre Internatumgebung umzieht. Somit erinnert es an früher Abenteuerbücher für Jugendliche in den siebzigern Jahren. Es liest sich flüssig, so wie Ponyhofgeschichten, aber ist nichts Nachwirkendes.

Es ist das höchstens Ziel aller beteiligten Fachkräfte im Pflegekinderwesen häufige Wechsel von Unterbringungen von Kindern und Jugendlichen zu vermeiden!

Leider ist solch eine Darstellung im Buch zu keiner Weise geeignet, für Pflegeverhältnisse zu werben. Es ist aber dringend nötig, dass es viele bereite Menschen gibt, die Pflegekinder aufnehmen wollen, da die Zahlen bedürftiger verwahrloster und geschädigter Kinder in unserer Gesellschaft regelmäßig ansteigen.

Das Mädchen benutzt eine Sprache und zeigt Reflektionsfähigkeiten, die eher an ein 17-jähriges Mädchen als an ein 12-jähriges erinnert.

Die Hauptperson zeigt keine erkennbaren Bindungen zu Erwachsenen und keine Bindungsbereitschaft. Sie orientiert sich an den anderen Kindern und kümmert sich um diese. Sie scheint keine Hoffnung zu haben, dass Erwachsene für sie bedeutend sein können. Bei einer solchen Sachlage wäre eine Unterbringung von Kindern und Jugendlichen häufig besser in einer Regelgruppe einer Jugendhilfeeinrichtung. Pflegefamilie ist nicht immer besser, wenn ein solch gestörtes  Bindungsverhalten vorliegt.

Die gewichtigen Rückmeldungen des Mädchens bzgl. der Bedeutsamkeit der Pflegefamilie bezogen sich leider überwiegend auf materielle Angebote durch die Pflegeeltern.

Somit wäre es gut und richtig, dieses Buch nicht als exemplarisch für Pflegeverhältnisse zu bewerben.

Christian Dreiack

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