Wir für uns

Barbara Kunrath

Fischer Krüger, 28.07.2021

400 Seiten, € 16,99

 

 

 

 

Obwohl  die 70-jährige Kathi und Josie, 41 Jahre alt, in einem kleinen Dorf leben, in dem jeder jeden kennt, begegnen sie sich nur durch einen Zufall. Kathi hat gerade ihren Mann beerdigt und Josie die Nachricht erhalten, dass sie ein Kind erwartet. Ein Kind von Bengt, einem älteren Mann, den sie seit neun Jahren mittlerweile nur noch einmal in der Woche trifft, da er verheiratet ist, Familie hat und keine Anstalten macht, Position für sie zu beziehen. Josie ahnt, dass Bengt das gemeinsame Kind nicht will, was dieser auch schnell bestätigt. Bis jetzt hat Josie in ihrem Leben immer nur alles ausgehalten und abgewartet und muss jetzt aber eine gravierende Lebensentscheidungen treffen, für sich und das entstehende Leben in ihr. Nicht nur die Überlegung, ob sie das Kind behält, sondern auch, ob sie entsprechende Tests machen soll, um etwaige Behinderungen, wie die Trisomie 21, vor dieser Entscheidung feststellen zu lassen, aber auch die Frage, ob sie sich von Bengt trennen soll, lassen Josies Leben aus den Angeln heben. Hinzu kommt die schwierige „Beziehung“ zu ihrer Mutter, die mehr schweigend und oberflächlich über das Wetter sprechend verläuft. Josie weiß, auch von Gesprächen mit ihrem älteren Bruder Florian, dass sie eine wesentlich jüngere Schwester hatte, die aber zu Tode gekommen ist, über deren Gründe immer ein Mantel des Schweigens verhängt wurde. Doch Josie spürt, dass dieser Tod auch im Zusammenhang mit dem turbulenten und nicht verlässlichen Ehe- und Familienleben und letztlich der Scheidung der Eltern in Zusammenhang steht.

In diesem Lebensorkan trifft sie auf die gerade erst Witwe gewordene Kathi, die ein Leben lang einen kleinen Tante Emma-Laden in dem Dorf geführt hat und ihn schweren Herzen schließen musste, da er der Konkurrenz nahegelegener Supermärkte nicht mehr standhalten konnte. Für Kathi stand ihr Laden immer an erster Stelle, danach erst kam ihre Familie, ihr Mann Werner und Max, der heute in den Dreißigern ist. Als Max langjährige Lebensgefährtin seiner Mutter Kathi eröffnet, dass sie sich von ihrem Sohn trennen wird, aber er ihr den entscheidenden Grund sagen soll, ahnt Kathi etwas. Als Max sich ihr gegenüber outet, dass er schwul und zu einem Freund gezogen ist, reagiert Kathi darauf mit  kalter Ablehnung, das Coming-out auch nur annähernd zu tolerieren, geschweige denn zu akzeptieren.

Obwohl die beiden Frauen nicht nur durch ihr Alter so unterschiedlich sind und der Zufall sie zusammengebracht hat, spüren sie eine nicht erklärbare Nähe. Ganz behutsam öffnen sie sich dem anderen gegenüber, erzählen von ihren Ängsten, Sorgen, Lebenserfahrungen, Gefühlen. Damit trösten sie sich gegenseitig und geben dem anderen aber auch Mut, gewohntes mit neuen Perspektiven zu betrachten, sich von festgefahrenen Meinungen zu trennen und jede für sich einen Neuanfang zu wagen.

Barbara Kunrath hat für mich mit Kathi und Josie zwei Protagonistinnen geschaffen, für die ich keine wirkliche Sympathie entwickeln oder mich mit ihnen identifizieren konnte. Kathi ist bis zuletzt egoistisch, dominant und homophob geblieben, Josie ist eine Vierzigerin, die es sich höchst nett in ihrem eigenen Selbstmitleid und Phlegmatismus eingerichtet hat und plötzlich vor der Herausforderung steht, schnell erwachsen zu werden.

Auch wenn mich diese Protagonisten nicht überzeugen konnten, war ich fasziniert und das auch der Grund, warum ich das Buch nicht aus der Hand gelegt habe, wie Barbara Kunrath es mit einem breiten Weichzeichner geschafft hat, die beiden kantigen Frauen sich gegenseitig annähern und in kleinen Teilen gemeinsam entwickeln zu lassen. Das ist ihr tatsächlich unterhaltsam gelungen. Das ernste Thema der Früherkennungstests, beispielsweise für Trisomie 21, insbesondere bei Spätgebärdenden bettet die Schriftstellerin feinfühlig und behutsam abwägend ein. Mir persönlich manchmal zu milde und dennoch prägnant, arbeitet die Schriftstellerin die Sprachlosigkeit aus, die Kathi ihr Leben lang mit ihrem Mann geführt hat und dies mit dominantem Verhalten ihrem Sohn gegenüber weiterführt. Ebenso das sprechende Schweigen der teilweise lebensunfähig wirkenden Josie mit Bengt und insbesondere mit ihrer Mutter, mit der sie ein Leben lang eine sehr schwierige Beziehung führt. Das „Aufbrechen“ dieser verschiedenen Sprachlosigkeiten wirkte auf mich dann aber etwas hopplahopp konstruiert und zu oberflächlich. Ob das Lösen von alten Strukturen, Mustern in der Realtität dann auf einmal so schnell wie in diesem Roman beschrieben geht, bezweifele ich. Schön für ein „Happy End“ und zu lesen, aber für mich auch nicht wirklich realistisch, da mir eine tiefere Ausarbeitung für die plötzliche Sinneswandlung fehlt, ist die Annäherung von Kathi zu ihrem Sohn Max, begründet durch die Präsentation ihres neuen Wagens.

Insgesamt ein kurzweiliger, unterhaltsamer Roman über drei knarzige und eigenwillige  Frauen, der wiederum einmal zeigt, wie sehr Sprachlosigkeit in Familien und Beziehungen die Menschen ein Leben lang begleitet – und belastet. Wenn man stark für eine Selbstrefklektion ist, um damit alte Denkweisen und Strukturen abzustreifen, kann man in jedem Alter und jederzeit mit einem offenen Gespräch einen Neuanfang wagen. Diese Tatsache wird mir in dieser Geschichte leider nur zu zaghaft und nicht immer nachvollziehbar beschrieben.

Sabine Wagner

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