Die Worte der weissen Königin

Antonia Michaelis

Oetinger, August 2011

272 Seiten, €  14,95

ab 14 Jahre

 

Inhalt:

Lion lebt mit seinem Vater alleine in einem alten Haus irgendwo an der Ostseeküste. Die Mutter hat die beiden schon vor Jahren verlassen, um im Westen Karriere zu machen und ihren eigenen Lebensweg zu gehen. Solange der Vater seinen ungelernten Arbeiterjob auf einer Schiffswerft hat, scheint alles soweit in Ordnung zu sein. Lion geht mit ihm auf die Jagd und er entdeckt dabei die Liebe zu den Seeadlern, die sein Vater allerdings
erschießt, weil sie die Ziegen und anderes Getier reißen, die er Nachbarn zum Verkauf anbieten will. Eine weitere Liebe entdeckt Lion zu Geschichten, die eine ältere Dame jeden Samstag Kindern in einer Kirche vorliest und sich mit ihnen darüber unterhält. Lion nennt diese feine Dame mit weißen Haaren „die weisse Königin“ und es gehen ihm bestimmte Worte eines Märchens nicht mehr aus dem Kopf. Als die weisse Königin sich eines Tages verabschiedet, weil sie sich auf eine lange Reise begibt, ist Lion sehr  traurig, denn er vermisst die Worte der Geschichten. Die Verzweiflung wird noch größer, als der Vater seine Arbeit verliert und sich in den Alkohol flüchtet. Wenn er betrunken ist, verwandelt er sich in den schwarzen König, der Lion brutal schlägt und erbarmungslos misshandelt. Eines Tages erscheint Lion das kleine Mädchen Olin, die behauptet, seine Schwester zu sein und schlau genug war, früh genug vor dem bösen Vater zu wegzulaufen. Als dieser wieder einmal sein wiederholtes Versprechen, endlich mit dem Trinken aufzuhören, bricht, sucht Lion Unterschlupf im Wald und findet bei den Adlern eine Art Ersatzfamilie. Olin folgt Lion und sagt ihm, was er zu tun und zu lassen hat und meist hört er auf sie.Gemeinsam mit ihr macht er sich auf die lange Reise, die weisse Königin zu finden, die er irgendwo in Berlin vermutet. Auf dieser Reise lernt er, auf sein Inneres zu hören und ganz langsam Vertrauen zu sich und zu anderen zu gewinnen.
Rezension:

Was diese Geschichte prägt, ist die Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe, die vielschichtig und nicht immer eindeutig ist. Lion liebt die Seeadler, verliert sich in den vorgelesenen Geschichten der weissen Königin, während der Vater diese Tiere hasst und gleichzeitig seine Eifersucht auf die Tierliebe seines Sohnes offen zeigt. Auch kann er großen Worten nichts abgewinnen und daher nicht Lions Verlangen nach den vorgelesenen Geschichten verstehen. Die erfundene Gestalt der jüngeren Schwester Olin ist für Lion zunächst überlebenswichtig, denn sie ist ein Teil seiner Selbstreflektion, die ihn leitet und auf die er  auch erst einmal bedingungslos hört. Sie gibt ihm Mut, fordert ihn auf und provoziert ihn. So schleudert sie Lion den Satz hin, dass sie sich gegen die väterliche Gewalt gewehrt hätte und sich nicht jahrelang hätte schlagen lassen, ohne ihm allerdings auch nur einen Hinweis zu geben, wie er das hätte anstellen sollen. Sie stellt das kleine Teufelchen im Ohr da, das ihm auch Böses zuflüstert, was Lion dann aber mit letztendlich eigener Kraft und Gewissen ausbalancieren kann. Der Spagat, surrealistische Elemente mit realistischen Begebenheiten zu verbinden, ist der Autorin in einer berührenden Sprache hervorragend gelungen. Ebenso die Sehnsucht nach Worten in Form eines Leitsatzes aus einem Märchen von Astrid Lindgren, der Lion Kraft und eine Identifikation gibt; auch wenn mit diesem Stilmittel die Autorin nicht mehr wirklich überrascht. Lion trägt durch die schweren Misshandlungen seines Vaters  mit einem Ziegenstrick schwere Narben auf seinem Rücken. Als er seinem Vater nach langer Flucht im Wald plötzlich gegenübersteht, greift der Adler, den Lion lange gepflegt und aufgepäppelt hat, den Vater an und fügt ihm ebenfalls Verletzungen auf dem Rücken zu. Als sie sich später erneut begegnen, und der Vater erneut versucht, Lion davon zu überzeugen, dass er sich verändert hat, zeigt er ihm die Narben auf  seinem Rücken. Diese Situation stellt sich recht theatralisch konstruiert und unrealistisch da, denn hier werden die Rachenarben des Adlers mit denen der brutalen Misshandlungen durch den Vater
gleichgestellt, was mehr als brisant ist. Zwar sagt der Vater, „dass keinem verziehen werden kann“, dennoch tut genau das Lion am Ende der Geschichte. Obwohl Antonia Michaelis mit der fiktiven Person und Zuflüstererin Olin einen Kontrapunkt setzt, löst sich dieser am Ende in einer kritischen Situation in Wohlgefallen auf. Es mag zwar für einen runden Schluss schön sein, dass es ein Verzeihen zwischen Sohn und Vater gibt, dennoch sind solche brutalen, körperlichen Misshandlungen, egal unter welchen Bedingungen sie Kinder zugefügt werden, nicht zwingend zu verzeihen. Es kann sicher später gelingen, nachzuvollziehen und zu verstehen, warum ein Elternteil in solcher Weise gehandelt hat, den Akt des Verzeihens muss aber nicht zwingend damit einhergehen.

Eine eigentlich gelungene Erzählung in einer berührenden Sprache, die von häuslicher Gewalt und der tiefen Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe erzählt, umrahmt von einer großen Liebe zu Seeadlern und Geschichten. Weniger theatralisches Konstrukt in der Begegnung zwischen Vater und Sohn und weniger zwingendes Verzeihen hätten die Geschichte allerdings deutlich glaubhafter gemacht.

Sabine Hoß

Bewertung:

 

 

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