Die Erfindung des Countdown

Daniel Mellem

dtv, 15. September 2020

288 Seiten, € 23,00

 

 

 

 

Wenn, wie bei mir, schon in der Schule die Fächer Mathematik und Chemie die reinsten Katastrophenfächer waren, hatte ich zunächst innerlich ein wenig geschaudert und zurückgezuckt, als ich den Klappentext des Buches gelesen habe. Da schreibt der promovierte Physiker Daniel Mellem seinen Belletristik-Debüt über Hermann Oberth, der den Menschheitstraum der Mondrakete verwirklichen will. Umso neugieriger und gespannter war ich darauf, wieviel Fachsprache die Unterhaltsamkeit überlagern könnte oder gar nicht aufkommen lässt. Der junge Autor hat diese nicht einfache Balance allerdings bis auf wenige Stellen hervorragend gemeistert.

Schon als Kind ein verträumter Außenseiter, beschließt Hermann Oberth nach dem Lesen von Jules Verne`s Buch „Die Reise zum Mond“ diesen Traum zu realisieren. Durch seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg und die Tatsache, dass sein jüngerer Bruder in diesem fällt, wird seine Vorstellung von einer Rakete zum Flug auf den Mond von der einer Waffe, die die grauenhaften Kriegsschlachtfelder unnötig macht, ergänzt. Doch er muss sich zunächst gegen seinen Vater durchsetzen, der als leidenschaftlicher Arzt in einem Krankenhaus ihn hier als seinen Nachfolger sieht. Trotz aller Vorbehalte seines Vaters studiert Hermann Physik und Raketenforschung. Für seine Ideen und Entwicklung einer Rakete, die in den Weltraum eindringt, wird Hermann lange Zeit von seinen Professoren verlacht und immer wieder aufs Abstellgleis gestellt. Seine Frau Tilla versucht ihn wohlwollend zu verstehen und hält ihm den Rücken frei, doch im Laufe der Zeit distanziert sie sich von ihm, denn seine Leidenschaft für die Raketenforschung entwickelt sich zu einem egoistischen Zwang. Seine Familie mit vier Kindern ist dabei ein störendes Anhängsel, mit dem er nicht viel anfangen kann. Hermann Oberth ist alles andere als ein Familienmensch und überfordert von seinen Kindern. Gefühle und Empathie zu zeigen, fällt ihm unheimlich schwer. Tilla versucht ihn zu erden und sorgt dafür, dass er mit Lehrertätigkeiten, für die er nicht geschaffen ist, für den Familienunterhalt zu sorgen. Voller Sehnsucht entwickelt Oberth immer weiter seine Forschungen an unterschiedlichen Wohnorten, an denen er teilweise alleine lebt oder seine Familie mitziehen lässt. Dabei stößt er regelmäßig auf Unverständnis gegenüber seinen Forschungen. Hinzu wird er als Volksdeutscher aus Siebenbürgen stammend, das nach dem Ersten Weltkrieg ein Teil von Rumänien wurde, nicht als Deutscher anerkannt, sondern als Ausländer behandelt, der vom Balkan kommt.

Auch das führte dazu, dass sich Hermann Oberth nirgendwo zugehörig und anerkannt fühlte. Ende der 1920er Jahre kommt er als wissenschaftlicher Berater von Fritz Lang für „Frau im Mond“ zum Film. Hier soll Oberth eine Rakete für den Film bauen, woran er aber grandios scheitert. Dafür erfindet Fritz Lang das Rückwärtszählen, den Countdown. Oberths Obsession läuft immer wieder ins Leere, trotzdem lässt er sich nicht entmutigen und forscht weiter.

Sein früherer Schüler Wernher von Braun holt ihn während des Zweiten Weltkrieges nach Peenemünde, damit er an der Vergeltungswaffe der Nazis, der „V2“ mitarbeiten kann. Doch auch hier bekommt er nicht die Anerkenntnis, die er erhofft hat.

Als 1969 dann die erste Rakete zum Mond flog, war Hermann Oberth in den USA dabei. Ohne seine Grundlagenforschungen, für die er Zeit seines Lebens oft genug verlacht und nicht ernst genommen wurde, wäre dieser Flug nie möglich geworden.

Daniel Mellem umreißt mit knapp siebzig Jahren das Leben von Hermann Oberth und macht diesen doch im Gegensatz zu Wernher von Braun eher allgemein nicht so bekannten Physiker zu einer literarischen interessanten Figur. Ein Mensch, der große Schwierigkeiten hatte, Gefühle und Empathie zu zeigen, was ihn immer wieder daran hinderte, seine wissenschaftlichen Arbeiten überzeugend zu präsentieren. Dem Autor gelingt es mit einer erzählenden Leichtigkeit, diesen ambivalenten Charakter – und auch die anderen Figuren-  mit einer faszinierenden Tiefe aufzustellen. Daniel Mellem beschreibt in einer unterhaltsamen und nur an wenigen Stellen in eine im Fachjargon abrutschenden erfrischenden Sprache, das tragische und kritische Leben von Hermann Oberth. Dabei erscheint Oberth mit seiner obsessiven Art wie der Don Quijote der Raketenforschung. Trotz aller Verfehlungen kämpft er bis ins hohe Alter für seinen Traum und darf die Realisierung seiner Utopie erleben. Daniel Mellem ist es wunderbar gelungen, mit einem hervorragenden Handlungsaufbau und einem nicht abflachenden Spannungsbogen einen Wissenschaftler und sein Leben zu porträtieren, der sich erst im hohen Alter gefragt hat, welche Opfer man bereit ist zu geben, um sein Ziel zu erreichen. Ein Ziel, dessen Auswirkungen man als Wissenschaftler nicht alleine beeinflussen kann und tragischer Weise aushalten muss. Der junge Autor wirft mit seinem überzeugenden Debüt-Roman einen ethischen Blick auf diesen Physiker und Forscher, der an seinem Traum obsessiv trotz aller Widrigkeiten weitergearbeitet hat, und zeigt in der Wissenschaft allgemein, dass Erfindungen einerseits zu furchtbaren Waffen verwendet werden und andererseits die Menschheit zu Reisen in unbekannte Universen ermöglichen können.

Auch für naturwissenschaftliche Muffel ein fesselnder, hoch spannender Schmöker, der einen interessanten Blick auf einen leidenschaftlichen, tragischen und genialen Erfinder wirft und dabei ethische Fragen der Wissenschaft ohne erhobenen moralischen Finger miteinfließen lässt.

Das stimmungsvolle, ruhige Cover rundet das gelungene Debüt ab.

Sabine Wagner

 

 

 

 

 

 

 

 

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