Über den Fluss

Theresa Pleitner

S. Fischer Verlag, 22.02.2023

208 Seiten, € 22,00

 

 

 

 

Die 1991 geborene Theresa Pleitner studierte literarisches Schreiben und Psychologie und arbeitete als Psychologin in einer Unterkunft für Geflüchtete, sowie in einer psychosomatischen Klinik und behandelt ambulant Patienten und Patientinnen. Bevor ihr Debütroman „Über den Fluss“ im Fischer Verlag erschien, wurde das unveröffentlichte Manuskript mit dem „Retzhof-Preis“ für junge Literatur ausgezeichnet und für den „Amadeu-Antonio-Preis“ nominiert.

Theresa Pleitner legt den Rechenschaftsbericht einer jungen, namenlosen Psychologin vor, die sich freiwillig und mit viel Idealismus zur Betreuung von geflüchteten Menschen in einem provisorischen Aufnahmelager am Rande einer Großstadt gemeldet und im Rahmen ihrer Arbeit eine folgenreiche, falsche Entscheidung getroffen hat.

In einer riesigen Halle mit nüchtern abgetrennten Kabinen leben viele Menschen, genannt „Gäste“, aus unterschiedlichen Nationen für eine ungewisse Zeit auf engstem Raum. Die meisten sind durch die Erlebnisse während ihrer Flucht zum Teil schwer traumatisiert. Die in der Ich-Perspektive erzählende Psychologin merkt relativ schnell, dass sie nicht nur persönlich, sondern auch in ihrem Beruf an Grenzen stößt. Ihr wird mit der Arbeit in diesem Aufnahmelager klar, dass sie mit ihrer psychologischen Betreuung in einem System eingebettet ist, das gegen ihrer persönlichen Einstellung, Richtlinien und Regelungen vorgibt. Die junge Psychologin gerät immer mehr in den engen Spagat von Widersprüchen zwischen professioneller, therapeutischer Hilfe und staatlicher Vorgaben. Zu denen gehören unter anderem auch Einlieferungen in psychiatrischen Kliniken gegen den Willen des Gastes mit nachfolgenden Entmündigungen und Abschiebungen. Als die junge Frau sich engagiert für einen Geflüchteten einsetzt, wird sie so heftig mit den Gegensätzen konfrontiert, dass sie nicht mehr abschalten, berufliches und privates nicht mehr voneinander trennen kann. Gleichzeitig erkennt sie die moralische Diskrepanz, in der sie sich befindet und trifft eine schwerwiegende Entscheidung.

Es liegt aus der Vita der Autorin nahe, dass sie eigene Erfahrungen in diesem nüchternen Rechenschaftsbericht verarbeitet hat. Man spürt, wie quälend es für die Erzählerin gewesen ist und Überwindung gekostet hat, „den Vorhang aufzuziehen“, um das Erlebte zu verschriftlichen und wenn sie von ihrem beruflichen Kontext erzählt, wirkte das auf mich nüchtern und in Teilen seltsam unnahbar. Theresa Pleitner benutzt oft medizinische Fachausdrücke, Diagnosen, Medikamente, die selbst einen psychologisch interessierten Leser mit Vorkenntnissen überfrachtend sind.

Wenn die Erzählerin ihre Diskrepanz zwischen Beruf- und Privatleben beschreibt und wie sie sich zunehmend von ihrer Freundin abkapselt, wird ihre Sprache emotional und fein. Die Atmosphäre vom bedrückenden Leben in den Wohnhallen mit den zahlreichen, sehr engen Kabinen und den geregelten Abläufen der Gäste durch die Bewachung von Security und Hausmeister, schildert Theresa Pleitner eindringlich. In kurzer Folge begegnet man verschiedenen Geflüchteten, deren unterschiedliche Fluchtgeschichten und daraus folgenden Traumata doch recht oberflächlich bleiben. Das Bemühen der jungen Psychologin um den jungen Herrn Rahim, der das „weiße Papier“ mit seiner Ausreisepflicht erhalten hat, endet mit einer Katastrophe. Somit ist Herr Rahim der Auslöser und Mittelpunkt des Rechenschaftsberichts, bei dem für die Psychologin der Eindruck entstanden ist, „als ob alle Geschichten in ihm zusammenlaufen, als ob er ein Zusammenschnitt aller Gäste ist und diese mir nun allesamt auf dem Gewissen lasten“.

So mühsam die junge Psychologin zwischen Vorstellung und Realität ihres Berufes in diesem Aufnahmelager ringt, so anstrengend empfand ich das Lesen. Das Buch ist weniger ein Roman, als ein tatsächlich aufrüttelnder, aber dennoch nüchterner, medizinischer Rechenschaftsbericht. Feine, poetische Elemente liest man in der Auseinandersetzung der jungen Frau mit ihrer zunehmenden Abkapselung und immer größer werdenden Vereinsamung in ihrem Privatleben durch ihren Beruf.

Da das Aufnahmelager abseits einer Großstadt auf der anderen Seite eines Flusses liegt, ist das Cover stimmig.

Sabine Wagner

Eingeschränkt

 

 

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