Kristine Bilkau
Luchterhand, ET 13.03.2025
224 Seiten, € 24,00
Annett, bald Fünfzig, lebt alleine in einem kleinen Haus im nordfriesischen Wattenmeer nahe Husum. Ihre Tochter Linn war noch ein Kleinkind, als sie ihren Vater und Annett ihren Mann Johan verlieren, als er von einer Joggingrunde nicht mehr zurückkehrt. Annett zieht Linn alleine mit vielen Entbehrungen groß und ist stolz auf ihre Tochter, die jetzt mit Mitte zwanzig nach Stationen in Schweden und Rumänien als Umweltaktivistin mit Focus auf den Erhalt von Wäldern und nach ihrem Studium ihre erste Stelle für ein Aufforstungsprojekt in Berlin angenommen hat. Als Linn während eines Vortrags in einem Hotel einen Kreislaufzusammenbruch erleidet, holt Annett sie im Krankenhaus ab und nimmt sie zu sich, damit ihre Tochter sich ausruhen und von ihrer Erschöpfung erholen kann. Geplant ist das für eine Woche, doch Linn bleibt länger. Sie kündigt ihre Stelle in Berlin, spricht aber so gut wie nicht mit ihrer Mutter über ihre Gedanken, die Gründe des Zusammenbruchs und wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Annett ist überfordert und hilflos, ihre Tochter so antriebslos und ziellos zu sehen, weil sie das so von Linn nicht kennt. Linn ist dagegen von den immer wieder gestellten Fragen ihrer Mutter nach dem Grund ihres Zusammenbruchs und den immer deutlich werdenden Aufforderungen, wieder ihre Arbeit aufzunehmen genervt. Je länger die beiden in einem Haus nebeneinander her wohnen, desto größer werden die Reibungsflächen zwischen Mutter und Tochter und den beiden Generationen. Während Linn ihrer Mutter Stillstand vorwirft und ihr nicht genügend Zeit zu lassen, zur Ruhe zu kommen, kommt Annett mit dem völlig neuen Verhalten ihrer Tochter nicht zurecht.
In direkter Nachbarschaft von Annett sind in einem schon länger leer stehenden Haus drei junge Menschen eingezogen, die Annett erst durch Linn näher kennenlernt. Während Annett bereits längere Zeit die Drei beobachtet hat und sich nicht traute, die Fragen, die ihr im Kopf umhergehen auch zu stellen, geht Linn unbefangen auf die Menschen zu und kommt mit ihnen ins Gespräch. Durch Linn nähert sich auch Annett der WG an und lernt dabei, über ihre Vorurteile und ihren Schatten zu springen, aber auch ihre Tochter besser kennen.
Kristine Bilkau entblättert in einer klaren, manchmal fast nüchternen Sprache ein feines Mutter-Tochter Psychogramm, das bewegt und beeindruckt. Die Autorin erzählt aus der Perspektive von Annett, der man schnell nahe ist. Trotz von Annett erzählter Rückblenden verzichtet Kristine Bilkau auf die, aktuell in vielen Romanen angesagten unterschiedlichen Zeitperspektiven mit häufigen Wechsel, was diesem Roman eine wohltuende Ruhe schenkt. Ebenso unaufgeregt aber nachvollziehbar erlebt man bei der Mutter die Verzweiflung, Hilflosigkeit über die Veränderungen und Sprachlosigkeit ihrer Tochter, wie auch das Genervtsein von Linn darüber, dass ihre Mutter ihr nicht die Zeit lässt und Vertrauen gibt, in Ruhe herauszufinden, wie es weitergehen soll. Als Linn dann beruflich etwas gefunden hat, um neuen Boden unter ihren Füßen zu bekommen, denkt Annett auch darüber nach, wie die Leute im kleinen Ort darüber reden werden.
Kristine Bilkau ist es auf eine sensible, undramatische Art gelungen, hinter den brisanten Themen der Verantwortung von uns allen für Umweltschutz sowie Umweltaktivismus in Verbindung mit wirtschaftlicher Verlogenheit, eine emphatische Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Lebenswegen von Mutter und Tochter, zwischen zwei Generationen mit Unausgesprochenem gegenüberzustellen.
Ein klarer, tiefsinniger Roman ohne Schnörkel, dafür psychologisch sensibel ausgearbeitet, ein Buch, das man mehr als einmal lesen wird.
Die in Hamburg lebende Kristine Bilkau stand bereits mit ihrem Roman „Nebenan“ 2022 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und ist für „Halbinsel“ mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet worden. Auch für „Bücher leben!“ gehört dieses Buch zum Highlight des Frühjahrs und gratuliert Kristine Bilkau und dem Verlag.
Das Cover ist so neutral, das es passt. 😉
Sabine Wagner