Barbara Kingsolver
Aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren
dtv, ET 12.06.2025
624 Seiten, € 26,00
In den USA erschien das Buch unter dem Originaltitel „Unsheltered“ bereits 2018, sieben Jahre später und nach Barbara Kingsolver`s internationalen großen Erfolg „Demon Copperhead“ erscheint „Die Unbehausten“ in der Übersetzung von Dirk van Gunsten im Juni 2025 bei dtv auf dem deutschen Buchmarkt.
In ihrem neuen Roman ist ein altes viktorianisches Haus das Bindeglied zwischen zwei Zeitebenen, einmal um 1874 und um 2017. In beiden Zeitebenen weist das Haus große Bauschäden und umfangreiche Reparaturbedürftigkeit auf.
2017 hat die arbeitslose Journalistin Willa Knox das heruntergekommene Häuschen von ihrer Tante in der Planstadt Vineland geerbt und lässt es gerade auf Reparaturbedürftigkeit untersuchen, obwohl sie ahnt, dass bei einem undichten Dach, Risse in der Wand mehr als nur Schönheitsreparaturen zu erwarten sind. So erhält sie vom Fachmann nicht wenig überraschend die Expertise, das Haus besser abzureißen statt Unsummen in Instandsetzung zu investieren, zudem das Haus kein Fundament besitzt. Für Willa ist diese Tatsache eine Katastrophe, denn in dem Haus leben nicht nur sie und ihr Mann Iano Tavoularis, der als promovierter Uni-Dozent ohne feste Anstellung von einem Jahr aufs nächste um eine Vertragsverlängerung bangt, sondern auch der erwachsene Sohn Zen, arbeitsloser Harvard-Absolvent mit einem Riesenberg Studienkreditschulden und obendrein gerade Vater eines kleinen Babys geworden. Um die Dramatik zu vervollständigen ist er auch gerade Witwer geworden, da sich seine Frau kurz nach der Geburt das Leben genommen hat. Weiterhin füllt das kleine Häuschen die erwachsene Tochter Tig, die zuletzt als Umweltaktivistin in Kuba gelebt hat und plötzlich wieder vor der Haustür ihrer Eltern stand, um Boden unter den Füßen zu bekommen, sowie Ianos pflegebedürftiger und grantiger Vater, der allen das ohnehin nicht einfache Leben schwerer macht.
Als Willa herausfindet, dass 150 Jahre zuvor die historisch belegte und bedeutende Biologin Mary Treat in diesem Haus gelebt haben soll, hofft sie, dass ihr Häuschen einen staatlichen Sanierungszuschuss erhält.
150 Jahre früher hat der 32-jährige Thatcher Greenwood mit seiner zehn Jahre jüngeren Frau, ihrer jüngeren Schwester und deren beider Mutter in diesem Haus gelebt. Thatcher war ein Lehrer für Physik und Naturkunde und Anhänger von Charles Darwin, was weder bei dem konservativen Schulleiter noch bei dem historisch belegten Captain Landis gut ankommt, der Vineland entworfen hat und diktatorisch die Stadt regierte. Thatcher lernt durch Zufall seine Nachbarin Mary Treat kennen, die als eine der ersten weiblichen Naturforscherinnen mit Charles Darwin durch Briefe in regelmäßigem Austausch steht. Thatcher und Mary freunden sich an, was vor allem in der Symbiose der gemeinsamen Forschungsgedanken im Sinne Darwins liegt, was ihnen beide wenig Zuspruch von Schule und Gesellschaft bringt.
Barbara Kingsolver baut das Buch mit einem kapitelweisen Wechsel der beiden Zeitebenen auf. Dabei bedient sie sich dem Trick, die letzten Worte des abschließenden Kapitels als Überschrift für das neue Kapitel zu übernehmen und im Kontext in einer anderen Zeitperspektive die Handlung fortzusetzen. Das gelingt ihr tatsächlich bravurös.
Was der Autorin ebenfalls sehr gut gelingt, ist die Verbindung der beiden Zeitebenen durch besagtes Haus mit ihren Bewohnern, sowie die Gegenüberstellung des Kampfes gegen politische Willkür und Diktatur, dem Kampf für Pressefreiheit und wissenschaftliche Forschung, sowie einem für alle bezahlbares Gesundheitssystem, die scheinbar mit 150 Jahren Unterschied kaum positive Erfolge und Entwicklungen zeigen. Während 1874 Captain Landis der willkürliche diktatorische Herrscher über Vineland ist, befindet sich Vineland um 2017 während des ersten Wahlkampfes von Donald Trump, der im Roman nicht namentlich und nur als „Das Megafon“ genannt wird.
Obwohl sich das 619 seitenstarke, komplexe, gesellschaftskritische und politische Buch flüssig und unterhaltsam liest (Übersetzung Dirk van Gunsten), wirken die Figuren doch schablonenartig, kantig und brav nach gut und böse abgesetzt, für mich insbesondere in der historischen Zeitperspektive. Die Perspektive um 2017 habe ich persönlich lebendiger und unterhaltsamer empfunden, obwohl die Familie Knox-Tavoularis etwas klischeeartig und mit einem touch too much Dramatik zusammengestellt ist: der Sohn Zeke als Harvard-Student und Startup-Gründer einer Investmentfirma, später wieder Angestellter, ihm gegenüber seine jüngere Schwester Tig, ein kleinwüchsiger, quirliger, revolutionärer Sturkopf mit großem, klugen Herz, mit der Zeke seit Kindheitstagen auf Kriegsfuß lebt. Willa, die zwischen Aufopferung für die Familie und verhinderter Selbstverwirklichung durch Arbeitslosigkeit hadert und ihr Ehemann Iano, ein bis heute sehr gut aussehender Adonis mit einer großen Anziehungskraft auf seine Studentinnen, aber Probleme hat, eine solide Festanstellung zu bekommen. Wenn man bedenkt, dass das Buch im Original bereits 2018 in den USA erschien und damit kurz nach dem ersten Amtsantritt von Donald Trump, haben sich die politischen und gesellschaftlichen Zustände in seiner zweiten Amtszeit aktuell dramatisch schnell einmal mehr zum Negativen entwickelt, dass dieses Buch in all seiner Kritik und Spiegelung überholt hat.
Auch wenn das fundamentlose Haus in Vineland eine Metapher für den Zerfall von grundlegenden Werten und der politischen (und gesellschaftlichen) Demontierung in den USA ist, gelingt es Barbara Kingsolver am Ende den Leser/die Leserin den komplexen Roman nicht ohne Hoffnung auf eine positivere Zukunft aus der Hand zu legen.
„Wir haben verloren, wofür wir gearbeitet haben, und ich fühle mich betrogen. Manchmal bin ich so wütend, dass ich aus der Haut fahren könnte. Ist es nicht einfach menschlich, immer etwas zu wollen?“ (Zitat aus dem Buch, Seite 323)
Sabine Wagner