Kopfüber zurück

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Rebecca Wait

Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll

Kein & Aber, Februar 2015

336 Seiten, € 19,90

ab 16 Jahre

 

 

Fünf Jahre nach dem Tod des ältesten Sohn Kit steht die Familie Stewart vor dem Zerfall ihrer Familienidylle. Auch jetzt noch bestimmt und beeinflusst der Verlust des Lieblingssohnes das Familienleben der Eltern wie der Geschwister Jamie und dem Nesthäkchen Emma. Kit war ein witziger, intelligenter junger Mann, dem die Welt nicht nur in beruflicher Hinsicht offen stand.

Nach dem Tod von Kit verlässt Jamie die Familie und bricht den Kontakt komplett ab, um Abstand zu gewinnen. Auch seine langjährige Freundin Alice verlässt er ohne jede Erklärung, die diese abrupte Trennung nicht verarbeitet und mit in ihre Ehe nimmt. Jamie wird Buchhändler blockt privat nahezu alle Außenkontakte ab und verschanzt sich in die Welt der Bücher und realitätsferne eigene Gedankenwelten, was er sich hart antrainiert hat. Neben dem einsamen Zocken mit der Spielkonsole kauft Jamie immer wieder große Lego-Bauteile, die er in Erinnerung und für seinen Bruder Kit zwischen Hingabe und innerer Quälerei aufbaut. Jamie stand Kit am nächsten und fragt sich immer wieder mit quälenden Selbstvorwürfen, wann die Entwicklung seines Bruders von einem selbstsicheren zu einem lebensmüden jungen Mann begonnen und warum keiner dies wirklich bemerkt hat.

Emma, inzwischen 15 Jahre alt, hadert mit ihrem Übergewicht und wird nicht nur deswegen von ihren Mitschülern gehänselt und nicht ernst genommen. Sie kompensiert ihre Einsamkeit mit religiöser Versessenheit, was ihren Stand in der Schule nicht verbessert. Ihre Mutter hat sich nach dem Tod zu einer übereifrigen Hausfrau entwickelt, für die es nur Kochen, Backen und Putzen gibt. Ihr Mann flüchtet daheim regelmäßig in den Schuppen. Über Kits Tod wird geschwiegen und nach außen eisern eine Familienidylle aufrecht erhalten.

Als die verzweifelte Emma ihren Bruder Jamie sucht, findet und ihn besucht, beginnt dieser langsam wieder Kontakt mit der Familie aufzunehmen. Viele Briefe hat er in den vergangenen fünf Jahren an seinen Vater geschrieben, die alle ohne Antwort blieben. Ein Wohnungseinbruch bringt Jamie an einen lebensgefährlichen und selbstzerstörerischen Punkt, der die Familie zum Handeln zwingt. Emma muss und will aus ihrer Außenseiterrolle in der Schule, die Mutter muss ihren Fluchtort Küche verlassen, wenn sie nicht auch noch Jamie und ihren Mann verlieren will, der sich, wie Jamie, mit unausgesprochenen und nicht verarbeiteten Selbstvorwürfen quält.

Rebecca Wait hat in klarer, einfacher und einfühlsamer Sprache eine eindringliche , vielstimmige Familiengeschichte geschrieben, die aus unterschiedlichen Perspektiven und Rückblenden erzählt wird. Aus den verschiedenen Sichtweisen der einzelnen Personen und Handlungssträngen setzt sich wie bei einem Mosaik Stein für Stein ein vielschichtiges Bild von Kit zusammen. Immer wieder werden die ungleichen und komplizierten Geschwisterbeziehungen  gegenübergestellt, die von Zuneigung und Miteinander aber auch von Neid und Konkurrenz geprägt sind. Besonders Jamie fragt sich mit Selbstvorwürfen, ob und wie er mehr für seinen kranken Bruder hätte tun sollen, wo seine Verantwortung für ihn war und er sich dieser entledigt hat.

Die Gründe und näheren Umstände über Kits Tod werden erst im letzten Teil des Buches aufgedeckt. Hier laufen die einzelnen Sichtweisen und Handlungsstränge zu einem Punkt zusammen, was dramaturgisch meisterhaft gelöst ist und den Leser bis zum Schluss gebannt in der Geschichte hält. Die Autorin beschreibt in diesem Familienroman nicht nur den schleichenden Verlauf der Krankheit Depression sondern auch, welche Veränderungen und Folgen diese Krankheit in einer Familie auf unterschiedliche Weise mit sich bringt und wie man damit umgeht. Im Kontext dazu steht die Tatsache des Verdrängens bzw. die Frage nach dem Erkennen von Veränderungen eines nahestehenden Menschen und der Verantwortung, wie man ihm helfen kann.

Rebecca Wait hat mit ihrem beeindruckenden Debüt ihre eigene Erfahrung mit der Krankheit Depression literarisch verarbeitet und zeigt, dass es Hoffnung und Möglichkeiten gibt, den Lebenswillen wiederzufinden.

Die Übersetzerin Anna-Nina Kroll hat die klare, poetisch-melancholische Erzählatmosphäre einfühlsam transportiert.

Das Cover fällt auf und ist stimmig.

„Kopfüber zurück“ ist kein klassisches Jugendbuch, aber durchaus von Jugendlichen ab 16 Jahren lesbar – und gehört für mich zu einer der Leseperlen im Frühjahr 2015.

Sabine Hoß

Bewertung:

 

 

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