Die langen Abende

Elizabeth Strout

Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth

Luchterhand, März 2020

352 Seiten, € 20

 

 

 

Obwohl man „Die langen Abende“ von Elizabeth Strout durchaus als einen eigenständigen Roman lesen kann, ist es die Fortsetzung des 2009 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Buchs „Mit Blick aufs Meer“. Liest man beide Bücher, hat man ein rundes und zusammenhängendes Lesevergnügen.

In „Die langen Abende“ gibt es ein Wiedersehen mit Olive Kitteridge, ehemalige Lehrerin und mit über siebzig jetzt Witwe und mit zunehmenden Alter immer dicker geworden. Sie führt, neben ihrem Freund und späteren Ehemann und ehemaligen Harvard Professor Jack Kennison, als roter Faden durch die opulenten Erzählungen. Die beiden haben durch ihr verschrobenes, egoistisches Verhalten schon seit langem keinen Kontakt mehr zu ihren jeweiligen eigenen Kindern, die sie, je älter sie werden, zu vermissen beginnen.

Die Aneinanderreihung von Erzählungen über verschiedene Personen und den Familien aus Olives und Jacks Leben, die zumeist alle in dem kleinen Ort Crosby, an der Küste von Main leben, sind der Kern des Buches. Olive hat wie Jack den ersten Ehepartner verloren und die beiden finden in der zunächst freundschaftlichen Beziehung, und so unterschiedlich die Beiden auch sind, darin die Basis für eine zweite Ehe im hohen Alter.

Olive Kitteridge ist eine dominante Frau, die sich mit Vorliebe und unsensibler, auch boshafter Weise, nur allzu gerne in das Leben ihrer Mitmenschen einmischt. Und es ist da völlig egal, ob es Freunde, Nachbarn, die eigene Familie oder ehemalige Schüler aus lang vergangenen Tagen sind. Trotz ihres meist befremdlichen Auftretens und überheblichen Verhaltens kann sie aber durchaus auch empathisch sein, als Einzige in schwierigen Situationen den richtigen Ton finden und vermag in die Seele ihres Gegenübers zu schauen, während andere unsicher flüchten.

Auch wenn Olive glaubt, einer ehemaligen Schülerin gegenüber mit ihrer Altersweisheit überlegen zu sein, wird sie von der jungen Frau mit ihren eigenen Mitteln geschlagen, womit sie nicht rechnet und was sie fassungslos macht. Überfordert und ratlos ist sie auch in dem zähen und erfolglosen Versuch, sich ihrem Sohn und seiner Patchwork-Familie wieder anzunähern. Man hat sich entfernt und nichts mehr zu sagen, nachdem Olive in der Vergangenheit zu viel und selten gutes gesagt hat. Der Autorin gelingt es hervorragend, die verschiedenen Personen und deren Charaktere mit Tiefe herauszuarbeiten und gleichzeitig den Leser sich immer näher mit Olive verbunden zu fühlen – auch wenn man immer wieder den Kopf über sie schütteln mag. Obwohl es einzelne Erzählungen sind, verbindet Elizabeth Strout sie meisterhaft zu einer zusammenlaufenden Handlung.

Es gab einige Stellen in dem Buch, an dem mir die Krankheiten, Zerwürfnisse, Streitigkeiten und Absonderlichkeiten, die sich latent durch alle Erzählungen wiederholen, ermüdet haben. Trotzdem habe ich das Buch nicht aus der Hand gelegt und Olive hat mich immer wieder gepackt, nicht zuletzt durch ihre Entwicklung und ihren klugen, nachdenklich machenden Gedanken und Dialoge über Liebe, Ehe, Alter, Einsamkeit und dem Sterben. Sie bleibt bis zum Schluss der Geschichte sich selber in ihrer wunderlichen Art treu, dennoch gehören am Ende ungewohnte sanfte, leise und auch bereuende Töne zu ihr.

Elizabeth Strout hat ein vielschichtiges und tiefgründiges Buch hinter der liebevoll und bilderreich beschriebenen Kulisse der Küste von Maine geschrieben, das nachhallt. Die Erzählungen um die verschiedenen Personen, die Olives und Jacks Leben teilen, zeigen  berührend aber niemals blümerant, wie schnell die Lebenszeit vergeht und es dabei für Reflektion, Veränderung nie und für Entschuldigungen selten zu spät ist. Obwohl das Buch von einer Frau geschrieben ist und es eine weibliche Hauptfigur gibt, ist es kein typisches „Frauenbuch“, sondern auch für Männer eine unterhaltsame Lektüre, in der sie sich wiederfinden können.

Ein stimmiges Cover rundet das Buch ab.

Ein Wermutstropfen sind allerdings die höchst eigenen Übersetzungen (aus dem Amerikanischen von Sabine Roth) und Schreibfehler, die den ganzen Lektoratsdurchgängen nicht aufgefallen sind, z.B.:

Seite 77: „Auf der Lampe, die umgestürzt auf dem kleinen Schreibtisch lag, war eine Unterhose gelandet, einzelne Socke waren bis an die drübere Wand geflogen, in der rosa Tagesdecke klaffte ein Riss.“

Seite 107: „Als sie ihm die Tür öffnete, stand er da in seiner Wildlederjacke, und irgendwie sah er geldig aus, geldig und verschlagen.“ (geldig aussehen??)

Seite 252: „Sie konnte Teile ihrer Unterhaltung hören, und sie merkte sehr schnell, dass der Mann ein Schurigler war…“ (Was bitte ist ein Schurigler? Kommt dieses Wort aus dem (bayerischen) Dialekt??)

Sabine Wagner

 

 

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