Das Haus auf dem Wasser

Emuna Elon

Aus dem Hebräischen von Barbara Linner

Aufbau Verlag, September 2021

360 Seiten, € 24,00

 

 

 

 

Der international gefeierte jüdische Autor Joel Blum aus Israel wollte auf keinen Fall jemals nach Amsterdam reisen, doch als sein dritter Roman in Holland publiziert wird, überredet ihn sein Agent , dass er „seinen Verlag nicht so ignorieren und sein Leserpublikum nicht länger missachten kann“. Als er mit seiner Frau Bat-Ami dann nach langem Zögern doch Amsterdam besucht, wird er auf einer Lesung von einem Journalisten gefragt, ob es richtig ist, dass er in Amsterdam geboren ist? Auf diese Frage ist der berühmten Schriftsteller nicht vorbereitet und somit  gibt er irritiert zu, dass dies richtig ist, aber seine Familie nach Israel emigriert ist, als er noch ein Baby war und sich daher immer als gebürtiger Israeli betrachtet hat.                   Als Joel seine Frau von ihrem Besuch im Jüdischen Museum dort abholt, wird er von ihr auf einen alten Filmausschnitt in Schwarz-Weiß aufmerksam gemacht, von dem sie völlig gefesselt ist: Eine junge Familie, ein Mann und eine Frau, in seinen Armen ein kleines Mädchen, in ihren Armen ein Baby. Die in die Kamera blickende junge Mutter bemüht sich, dass auch das Baby lächelnd dorthin blickt. Joel erkennt in der jungen Frau seine Mutter und in dem kleinen Mädchen seine ältere Schwester Nettie. Der Mann, der das Mädchen in seinen Armen hält, muss wohl sein Vater gewesen sein, der deportiert wurde, als Joel noch ein Baby war und von dem kein Foto geblieben ist. Doch das Baby, das seine Mutter auf dem Arm hält, ist nicht Joel, das erkennt dieser ganz klar an der Kopfform, an den Augen und Haaren. Das Baby hat absolut keine Ähnlichkeit mit ihm, wohl aber unverkennbar mit seiner Mutter. Joel schaut sich den Filmausschnitt völlig verstört in einer Dauerschleife immer und immer wieder an und bleibt ratlos zurück.

Obwohl er seiner Mutter hinaus versprechen musste, niemals einen Fuß nach Amsterdam zu setzen, hat er das über ihren Tod hinaus bis zu dieser Lesereise gehalten. Auch ihren Satz: „Denk daran, Joel, und vergiss nie, sagte seine Mutter in seiner Kindheit immer zu ihm. Du hast eine Mutter, und du hast eine Schwester, und du hast dich selbst. Das ist alles, nichts anderes zählt.“, begleitete ihn ein Leben lang. Als Joel mit Bat-Ami wieder in Israel ist, wird ihm klar, dass er nach Amsterdam zurückkehren muss, um nach seinen Wurzeln zu suchen und herauszufinden, wer dieses andere Baby ist. Ein Telefonat mit seiner Schwester Nettie gibt ihm teils exakte und teils vage Andeutungen, die jedoch noch mehr Fragen aufwerfen. Also setzt sich Joel Blum abermals in ein Flugzeug, um diesmal alleine sich in die Tiefen der jüdischen Stadtgeschichte von Amsterdam zu vertiefen und zu versuchen, seine Familiengeschichte zu ergründen.

Aus vier Notizheften à vierzig Seiten, in die der Schriftsteller seine Notizen und Geschichten festhält, entwickelt Emuna Elon einen großartigen Roman, in dem sich zwei parallel laufende Familiengeschichten in der Vergangenheit und Gegenwart abwechseln. Während Joel Blum in der Gegenwart auf Spurensuche seiner Familie ist und dabei ein Moasiksteinchen zum anderen zusammen finden muss, hält er in seinen Notizheften die Geschichte zweier eng befreundeten jüdischen Familien fest, die in Amsterdam leben und fliehen müssen. Es wird sein neuer Roman, der von seinen Eltern und einer befreundeten Familie erzählt. Durch die sich ständig wechselnden zeitlichen- und Erzählperspektiven auf mehreren Ebenen verwischen schnell Gegenwart und Realität. Emuna Elon, Jahrgang 1955, internationale Schriftstellerin, Journalistin und Frauenaktivistin, ist es hervorragend gelungen, diese Schreibweise mit Gefühl und klug mit einem stringenten roten Faden zu verbinden. Sie hat offensichtlich mit Hingabe in Amsterdam Straßen, Plätze und Viertel recherchiert und rollt ein wichtiges Stück deutsch-jüdisch-israelische Geschichte während des Zweiten Weltkrieges auf, die nie vergessen werden darf, da sie bis heute, wie der Roman spiegelt, die Nachkommen verbindet und auch in Zukunft beschäftigen wird. Die Autorin verbindet mühelos historisches mit dem heutigen Leben, beschreibt dabei die Zweifel und auch Hilflosigkeit von Joel Blum in der Beziehung zu seiner Frau, seinen Töchtern und seinem Lieblingsenkel Tal. Dabei klagt Emuna Elon weder an noch erhebt sie moralisch belehrend den Finger. In einer klaren aber auch poetischen, empathischen Sprache taucht der Leser und die Leserin in einen fesselnden Roman ein, der „Geschichte“ auf verschiedenen Ebenen, auf feine Weise beeindruckend erzählt. (Übersetzung aus dem Hebräischen von Barbara Linner) Hier haben sich Autorin und Übersetzerin ein einer perfekten Symbiose gefunden.

„Das Haus auf dem Wasser“ ist kein Roman, den man schnell mal zwischendurch liest, dafür braucht es Aufmerksamkeit und manchmal musste ich auch kurz pausieren, um das Gelesene wirken zu lassen. Mit immer wieder überraschenden Wendungen verwischen sich in dem sich entwickelten Roman von Joel Blum historisch belegte Begebenheiten mit Fiktion. So lässt er überzeugend glauben, dass die beiden Personen in seinem neuen Roman, Sonia und Eddy, seine Eltern und die seiner älteren Schwester Nettie sind sowie Martin und Anouk ihre besten Freunde. Doch egal, ob Real oder Fiktion – der Roman ist eine  großartige Familiengeschichte hinter dem Hintergrund einer unerschütterlichen Liebe zwischen Mutter und Sohn.

Die Autorin Emina Elon führt faszinierend zum Schluss alle Figuren und Erzählstränge aus Vergangenheit und Gegenwart schlüssig zusammen. Nachdenklich, aber in jedem Fall auf eine warmherzige Weise getröstet und mit Joel Blum verbunden, legt man diesen Roman, der große Literatur ist, am Ende aus der Hand.

Das Cover passt stimmig.

Sabine Wagner

 

 

 

 

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