Meine Schwester

Bettina Flitner

Kiepenheuer & Witsch, Februar 2022

320 Seiten, € 22,00

 

 

 

 

Das Buch beginnt mit einem Anruf von Thomas, dem Ehemann von Bettinas Schwester Susanne, an einem Abend im April 2017 mit einer furchtbaren Nachricht: Fast auf den Tag hat Susanne, genau wie 33 Jahre zuvor ihre Mutter, durch Suizid ihr Leben beendet. Die Mutter wurde 47 Jahre alt, Susanne 57 Jahre. Wie die gemeinsame Mutter kämpfte auch Susanne mit der Krankheit Depression, die Bettina Flitner mit schwarzen Raben vergleicht, die auf den richtigen Moment warten, um sich niederzulassen. Ein Bild, das von psychisch Erkrankten nicht selten verwandt wird. Susanne hatte zuletzt nur noch wenige Kontakte: Raffi, ihren besten Freund, Thomas, ihr Ehemann, ihren Vater, ihre Schwester und deren Lebensgefährtin Alice.

Die Krankheit „Depression“ wurde in der Familie schon immer offen behandelt und besprochen, was für die damalige Zeit eine Besonderheit war. Dennoch bleibt Bettina Flitner mit der Frage zurück: Warum hatten meine Mutter und Schwester diese Erkrankung und warum habe ich sie nicht? „Du hast es offenbar nicht geerbt“, sagte ihr der Vater nach Susannes Tod. Schuld, wenn man überlebt, ist ein anderes Thema, mit der sich die Schriftstellerin auseinandersetzt, daher fragt sich die Autorin immer wieder: „Was? Hätte man? Wann? Tun? Müssen?“

Mit dieser Frage geht die Autorin zurück in die gemeinsame Kindheit mit ihrer Schwester. Die ist geprägt von vielen Umzügen durch häufigen beruflichen Wechsel des Vaters, aber auch von häufigem Abschieben zu den Großeltern, da Vater und Mutter zu vielen gesellschaftlichen Veranstaltungen unterwegs waren. Durch die vielen Ortswechsel müssen die beiden Geschwister immer wieder liebgewonnene Freundschaften verlassen und Schulen wechseln, Wurzeln schlagen bleibt ihnen fremd. Umso enger und vertrauter ist die Beziehung der beiden kleinen Mädchen zueinander, dabei spüren sie eine angespannte Atmosphäre zwischen Vater und Mutter. Diese leben nebeneinander her, in einer mehr oder weniger offenen Beziehung, jeder mit wechselnden Geliebten. Die nicht gleichliebende Beziehung des Vaters zu seinen so unterschiedlichen Töchtern, trägt zur Entfernung und später auch zur Spaltung der Geschwister bei:

„Entweder man wird geliebt, oder man wird verachtet“, ist ein Satz des Vaters. „Liebe und Achtung schlossen sich in seiner Vorstellung aus.“ (Zitat aus dem Buch)

Als Susanne in die Pubertät kommt, entfernt sich das einst so enge und vertraute Band zu ihrer Schwester. Während sich Susanne scheinbar daran erfreut, erwachsener zu werden, fürchtet sich ihre kleinere Schwester davor. Je älter die beiden werden, desto mehr entfernen sie sich voneinander und entwickeln sich unterschiedlich. Während die als Kind eher zurückhaltendere Bettina durch ihre Profession und Beruf als Fotografin um die Welt kommt und sich einen Namen macht, weiß ihre Schwester Susanne lange nicht, wo ihr Platz ist, weder beruflich noch privat. Auch hier versucht der Vater, trotz bester Förderung, seine beiden Töchter zu beeinflussen, was aber bei Susanne scheinbar zu weiterer Verunsicherung beiträgt.

Der Vater sagte: „Liebe war etwas, das man mit Demütigung bezahlte, etwas, das einen am Ende vernichten konnte. Achtung konnte einen retten.“ Meine Schwester wählte die Liebe, ich die Achtung.“ (Buch, S. 176)

Irgendwann begann Susanne Sachen wegzuwerfen, die beschädigt waren, eine Reparatur kam für sie nie in Betracht. Sie benutzte unzählige Crémes gegen irgendetwas nur kurz, denn sobald sie angebrochen waren, wurden sie gegen neue Tuben und Tiegel ersetzt, die gerade geöffneten wurden weggeworfen. Kurz bevor sie starb, holte sie sich Hilfe in einer psychiatrischen Klinik, vergeblich. Der Gedanke, dass Susanne sich vielleicht als beschädigten Menschen betrachtete und sich mit ihrem Suizid entsorgt hat, lässt ihre Familien und Freunde ratlos trauernd zurück.

Bettina Flitner ist eine großartige Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte gelungen, in die sie dem Leser, der Leserin einen intimen Einblick gewährt. Als Fotografin ist sie eine international bekannte Künstlerin und auch in ihrem ersten Roman gelingt ihr eine hervorragende Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit mit perfekt arrangierten, fließend ineinander übergleitenden Bildern. Mit ihrer persönlichen Brennweite focussiert die Autorin dabei einzelne Familienmitglieder, erweitert sie aber auch im Kontext der mit ihnen zusammenhängenden Beziehungen. Bettina Flitner beleuchtet sehr klar die familiäre Aufstellung und das Beziehungsgeflecht, wie z.B. das Verhältnis der Geschwister zueinander, zu den Eltern, der Großeltern väterlicher- wie mütterlicherseits, sowie das Verhältnis von Vater und Mutter zu ihren Eltern und Schwiegereltern. Dabei klagt sie keinen Angehörigen an oder weist Schuld zu, sondern analysiert klug, wer, warum sich wie verhalten hat – mit welchen Konsequenzen für ihre Schwester und sich selbst. Die Autorin erzählt trotz aller Klarheit in Teilen mit feiner Ironie, insbesondere bei Kindheitserlebnissen mit ihrer Schwester mit dezenten Witz. Als Fotografin mit einem hervorragend beobachtenden Auge geschult, beschreibt Bettina Flitner mit einer warmherzigen, aber niemals pathetischen Sprache die Erinnerungen an ihre Schwester und die Auseinandersetzung mit deren Suizid – klug und großartig.

Ein Roman, der mich nachhaltig beeindruckt hat und sicher zu den wenigen literarischen Perlen der letzten Monate gehört, denn trotz aller Traurigkeit hinterlassen die aufgearbeiteten Erinnerungen auch etwas Tröstendes.

Das Cover ist ein Foto, dass Bettina Flitner von sich und ihrer Schwester im Badezimmer im Haus ihres Vaters 1982 aufgenommen hat, die Fotografin ist 21 Jahre, ihre Schwester Susanne 24 Jahre alt. Ein Foto, das sehr berührt und so passend für diesen Roman ist, da sich die Schwester gemeinsam im Spiegel anschauen, es für Dritte aber den Blick von außen auf die beiden gibt.

P.S. Bettina Flitner ist seit 2018 mit Alice Schwarzer verheiratet. Der Name Alice taucht in dieser Aufarbeitung auf, jedoch nie aufdringlich, sondern nebensächlich zurückhaltend. Trotzdem ist auf unauffällige Weise spürbar, dass Alice nicht nur in den dunklen Stunden nach dem Tod von Bettina Flitners Schwester, sondern seit vielen Jahren ein liebender, naher Mensch und wichtiger Halt für die Autorin ist.

Sabine Wagner

Ein Kurz-Interview mit der Autorin zu diesem Buch lesen Sie hier:

Dieser Beitrag wurde unter 5 Bücher, Autoren, Autoren F - K, Bestenliste veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Kommentare sind geschlossen.