Der Papierpalast

 

Miranda Cowley Heller

Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Höbel

Ullstein Verlag, 31.03.2022

448 Seiten, € 24,70

 

 

Seit ihrer Kindheit kommt Elle im Sommer nach Back Woods auf Cape Cod, wo bereits der Großvater das Familien-Sommercamp „der Papierpalast“ an einem See gebaut hat. Als Kind war sie mit ihrer Schwester Anna und ihrer Mutter samt Lebensgefährten hier, heute ist Elle selber Mutter von drei Kindern und verbringt mit ihnen, ihrem Mann Peter und ihrer Mutter wie früher hier die Sommerzeit. Elle ist früh am Morgen des ersten August auf, damit sie alleine sein und sich sortieren kann, denn vergangene Nacht hat sie, während ihr Mann und ihre Familie sich amüsiert haben, mit ihrem bestem Freund Jonas aus Kindertagen zum ersten Mal geschlafen. Elle ist muss sich entscheiden: Bleibt sie bei ihrem Mann Peter, ein Brite mit trockenem Humor, der wie ein Fels in der Brandung für sie ist und ein liebevoller Vater ihrer drei gemeinsamen Kinder – oder geht sie eine Beziehung mit Jonas ein, für den sie seit Kindertagen die große Liebe ist und den sie auch in ihrem Leben mit Peter nie vergessen hat.

Miranda Cowley Heller gelingt es mühelos, den Leser/die Leserin von der ersten Seite an in die Geschichte hineinzuziehen, die in der Gegenwart an einem einzigen Sommertag passiert und aus der Sicht der Hauptfigur Elle erzählt wird. In abwechselnden Kapitel geht sie dabei parallel zurück in die Vergangenheit, beginnend Mitte der sechziger Jahre und nähert sich mit jedem Abschnitt der Gegenwart.

Mitte der Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist die Zeit ihrer Kindheit, Jugend und Adoleszenz, die sie mit ihrer etwas älteren Schwester Anna unter schwierigen Umständen verbracht hat. Ihre Eltern trennen sich, da sind die beiden noch klein und Mutter wie Vater nehmen sich mehr Zeit für ihre häufig wechselnden Beziehungen als für ihre beiden Töchter. Es ist eine Art Hippie-Leben, in denen die beiden Mädchen heranwachsen und so viel Freiheit es für sie gibt, so viel Einsamkeit und Alleingelassen sein resultiert daraus, denn die Eltern sind mit ihren eigenen Dingen mehr beschäftigt, als sich um Erziehung und liebevolles Dasein für Elle und Anna zu kümmern. Während sich die beiden Schwestern als Kinder eher als Rivalinnen gegenüberstanden, nähern sie sich als Jugendliche an und werden Vertraute, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, dass Anna in ein Internat abgeschoben und somit Elle ihre engste Ansprechpartnerin in der zerrissenen Familie wurde.

Als Teenager lernt Elle während eines Sommerurlaubs in Back Woods im „Papierpalast“ Jonas kennen, der etwas jünger als sie ist, den sie aber erst einmal nur als kleinen Jungen wahrnimmt. Für Jonas ist Elle die große Liebe auf den ersten Blick und wird es immer bleiben, auch wenn sie sich nur im Sommer auf Cape Cod begegnen. Im Laufe der Zeit fühlt auch Elle sich zu Jonas hingezogen, trotzdem trennen sich immer wieder ihre Lebenswege. Als die erwachsene Elle den britischen Journalisten Peter in New York kennenlernt, ist es nicht wirklich die große Liebe für sie, aber er ist für sie der Fels in der Brandung und der Mann, mit dem sie eine Familie gründet. Doch wie Elle in Jonas Gedächtnis geblieben ist, der mittlerweile auch verheiratet ist, hat auch sie ihren Jugendfreund nie vergessen.

In einem ruhigen, unaufgeregten aber gefühlvollen Ton berichtet Elle über fünfzig Jahre hinweg von der Entwicklung ihres Lebens und wie sich Beziehungen verändert haben, dessen Erzählkraft einen intensiven Sog entwickelt. Die Autorin entfaltet eine vielschichtige und tiefgründige Familiengeschichte, in der die Dreiecksgeschichte zwischen Ellen, Jonas und Peter erst im Laufe der Handlung in den Focus rückt, auch wenn man schon direkt zu Beginn damit konfrontiert wird. Sie lässt Elle in der Aufarbeitung ihres Lebens ihr persönlichstes Geheimnis erzählen, dessen Offenbarung für sie ein Stück Befreiung bedeutet, sie aber auch vor neuen Entscheidungen stellt, die ihr weiteres Leben beeinflussen werden.

Miranda Cowley Heller hat eine feinfühlige Beobachtungsgabe für Menschen, Beziehungsgeflechte und ein wunderbares Gespür für Details, die später zu einem großen Ganzen werden. Mit atmosphärisch-leichten Beschreibungen von Landschaft und Sommer auf der Insel Cape Cod verbindet sie die die beeindruckende Familien- und Beziehungsgeschichte mit den Themen Schuld, Selbstreflexion und Aufrichtigkeit. Der „Papierpalast“ in Back Woods war für Elle in der Vergangenheit ein Rückzugsort, vor allem in den Sommermonaten, jetzt wird er zum Wendepunkt für ihr weiteres Leben.

Auch Miranda Cowley Heller hat als Heranwachsende viele Sommer auf Cape Cod verbracht und zahlreiche erfolgreiche Serien in den USA entwickelt und verantwortet. So wie sie den Roman geschrieben hat, ist er auch als Drehbuchvorlage für eine kleine Serie vorstellbar.

Eine Familiengeschichte inklusive Liebes-Dreiecksgeschichte hätte eine Konstellation für eine kitschige Schmonzette sein können. Doch die Schriftstellerin ist mit ihrem nachdenklich machenden und von der ersten bis zu letzten Seite klug wie fesselnd erzählten (Übersetzung Susanne Höbel) Debüt-Roman dieser Gefahr in jeder Beziehung ausgewichen.

Sabine Wagner

 

 

 

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