Zur See

Dörte Hansen

Penguin Verlag, 28. September 2022

256 Seiten, € 24,00

 

 

 

 

Mit ihrem ersten Roman „Altes Land“ hat mich Dörte Hansen schon begeistert, was sie mit ihrem zweiten Buch „Mittagsstunde“ wiederholte, was bemerkenswert ist.

Ihr drittes Buch verortet die Schriftstellerin nun nicht in einem kleinen norddeutschen Dorf, sondern auf einer Insel, „die irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland“ sein kann. Auf dieser Insel lebt seit 300 Jahren die Familie Sander, die im Zentrum des Romans stehen. Da ist Hanne Sander, die die drei Kinder Ryckmer, Eske und Henrik groß gezogen hat, während ihr Mann Jens zur See fuhr, bis er sich im Ruhestand zwischen Frühjahr und Herbst sich als Vogelkundler in eine Stelzenhütte im Driftland von seiner Frau und Familie zurückzieht. 

Ryckmer, der wie sein Vater, Großvater und Vorfahren zur See gefahren ist, sich aber „langsam aber konsequent von der Kommandobrücke eines Tankers auf einen Nordseependelkahns herabgesoffen hat.“ Trotzdem lässt ihn das Meer nicht los, denn er beschäftigt sich mit Flutstatistiken und zeichnet Wind und Wasser seit vielen Jahren auf. Seine Schwester Eske arbeitet als Altenpflegerin und hasst nichts mehr wie die Touristen, die fast ganzjährig die Insel bevölkern. Wegen ihnen hat sie eine Mutter mit zwei Gesichter kennengelernt; die eine Mutter mit dem aufgesetzt heiteren und immer freundlichen Gesicht für die Touristen während der Sommerzeit und das völlig andere Gesicht für die Kinder (und ihren Ehemann Jens) während der anderen Jahreszeiten. Auf dem Festland hat sie eine Geliebte, die Eske aber nur selten sieht, was ihr, trotz Zweifel, reicht. 

Henrik ist mit seinen 30 Jahren der Jüngste der drei Geschwister und sollte eigentlich als Wunschkind die Versöhnung der auseinandergelebten Ehe von Hanne und Jens besiegeln, was aber nicht funktioniert hat. Henrik ist stets barfuß, in kurzen Hosen mit einem, von seiner Mutter gestrickten, grau-blauen Wollpullover unterwegs und sammelt jeden Tag mit seinem wilden Hund angespülten Kram aus dem Spülsaum. Als „Treibgutkünstler“ verdient er gutes Geld und hat sogar schon einige erfolgreiche Ausstellungen in Galerien gehabt und ist nicht zuletzt damit den Inselbewohnern suspekt.

Hanne Sander hat es irgendwann aufgegeben, auf die Rückkehr ihres Mannes zu warten, der die meiste Zeit des Jahres auf hoher See das Geld verdiente. Mit der Vermietung der Kinderzimmer an die Feriengäste im Sommer hat sie sich vor Jahrzehnten nicht nur finanziell unabhängig gemacht. Im Laufe der Zeit veränderten sich aber die Ansprüche der Touristen an ihre Unterkünfte, der Hanne aber bald nicht mehr gerecht werden konnte. Als ihr Mann Jens dann nicht mehr zur See fährt, fühlt er sich „zuhause“ nicht wohl und willkommen und zieht sich als Vogelkundler in eine Stelzenhütte zurück. Jens merkt, dass auch hier seine Zeit vorbei ist, als er mit einem jungen Forscher seine Hütte teilen muss, aber auch durch alterstypischen Beschwerden, die im Herbst-Winter umso unangenehmer sind. Er kehrt durch die Hintertür in sein Haus und zu Hanne zurück, was für beide einen neuen Lebensabschnitt einläutet, an den sie sich gewöhnen müssen.

Neben der Familie Sander ist auch der Pastor Matthias Lehmann eine wichtige und interessante Figur .Er ist schon lange auf der Insel, kennt die Bewohner in- und auswendig, beobachtet das wechselhafte Leben der Fremden, die nur temporär auf der leben, teils nur wenige Tage und Wochen oder etwas länger, wenn sie eines der alten Häuser gekauft haben. Mit seinem charismatischen Auftreten und intelligenten Ansprachen füllt er die kleine Kirche, besonders mit Touristen. Nur mit seiner langjährigen Ehefrau Katrin, die als Lehrerin auf dem Festland arbeitet, wird der Dialog immer stiller und stummer, bis sie ihm den Entschluss mitteilt, über die Woche hinweg ganz aufs Festland zu gehen und nur am Wochenende und in den Ferien bei ihm zu sein. „Nicht weg von Dir. Weg von der Insel.“                                                                                            Als eines Tages ein verirrter Wal am Strand der Insel verendet, sind alle erstarrt, schockiert und überfordert mit dem, was nun zu tun ist. Pastor Lehmann hadert mit der Entscheidung seiner Frau, sich auf Zeit von ihm zu trennen und mit seinem Glauben an Gott, dabei findet er Parallelen zu seinem Hadern in dem Tod des Wals.

Dörte Hansen ist mit ihrer ganz eigenen, typischen Stimme und klugen wie scharfen Beobachtungen von Menschen wieder einmal gelungen, mit einer großartigen Tiefe und Intensität das Leben der Inselbewohner, respektive das der Familie Sander und des Pastor Lehmann lebendig zu machen. Ihre Sprache ist gewohnt fein, präzise; jede Beschreibung ist gut überlegt und sitzt, dabei mit einer Melancholie unterlegt, die, bevor sie in Traurigkeit sich ergeht, mit einem speziellen lakonischen Humor wieder ihr Gleichgewicht findet. Die Autorin zeigt am Beispiel der Familie Sander, wie sich das Touristenleben im Laufe der Jahrzehnte auf der Insel verändert und welchen Einfluss dies auf die das Gefüge der Inselbewohner genommen hat. Mit Ryckmer wird deutlich, was für eine Last bestimmte Traditionen, wie die Weitergabe des Kapitänspatent, für das dann nicht mehr selbstbestimmte Leben sein kann. Dörte Hansen räumt aber auch mit die Vorstellung auf, dass die Ehefrauen von Männern, die zur See fuhren, tatenlos auf deren Heimkehr gewartet, sondern ihr Leben selber in die Hand genommen haben und damit auch finanziell einen Beitrag zum Unterhalt einbrachten. Der gestrandete Wal führt die Inselbewohner zusammen, die alle mehr oder weniger hilflos und überfordert dafür sorgen müssen, dass das riesige, verwesende, furchtbar stinkende Säugetier ordentlich zerlegt wie entsorgt wird. Dabei geht jeder auf seine Weise mit dem verendeten Tier um.

Es gibt wohl nicht viele Schriftsteller*innen, denen es gelingt, nach einem fulminanten Debüt zwei weitere Romane zu präsentieren, die in gleich hoher Qualität mit einer feinen Sprache und einer intensiven, lebenserfahrenen Ausarbeitung der Innenleben ihrer Figuren zu überzeugen. Die 1964 in Husum geborene Journalistin und Schriftstellerin Dörte Hansen beweist genau das mit ihrem dritten Roman „Zur See“, in dem sie einfühlsam den ein oder anderen Mythos aus dem Leben der Seemannsfamilien und des Meeres entschleiert. Dieses Buch, das von der tiefen Liebe zum Meer, von Einengung und Befreiung und dem Wandel von Tradition erzählt, ist für mich das melancholischste der drei Romane der nordeutschen Autorin. Am Beispiel der Familie Sander oder des Pastor Lehmann wird deutlich, wie schwierig es ist, eine Kurskorrektur in seinem Leben vorzunehmen, geschweige denn eine Kursänderung  durchzuziehen – aber letztlich gibt es auch wieder ein Stück Hoffnung.

Dörte Hansen verführt den Leser/die Leserin, egal, ob dem Meer zugeneigt oder der Sehnsuchtsort die Berge sind, mit ihrem einzigartigen Schreibstil und beeindruckender Qualität an ihren literarischen Ort. Sie ist 2022 zur Stadtschreiberin der Stadt Mainz ernannt worden und ich bin neugierig und gespannt auf ihre neue Geschichte, die vielleicht einmal abseits von norddeutschen Landschaften und Menschen erzählt.

Ein sehr schönes, stimmiges Cover rundet diesen beeindruckenden Roman ab.

Sabine Wagner

 

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