Die Familien der anderen – Mein Leben in Büchern

Christine Westermann

Kiepenheuer & Witsch, 03.11.2022

224 Seiten, € 23,00

 

 

 

 

Es gibt für mich zwei Bücherliebhaberinnen und Literaturkennerinnen, die mit wenigen Sätzen und auf eine unterhaltsame Weise ganz unterschiedlich auf Bücher neugierig machen: Das war Elke Heidenreich mit ihrer Sendung „Lesen!“ und immer noch aktuell Christine Westermann. Beide verzichten auf Einstreuung abgehobener, intellektueller Satzverdrehungen oder dem respektlos-vernichtenden Wurf eines Buches in eine Mülltonne; beide machen ohne hochliterarisches Vorwissen Lust auf Literatur.

Schon lange habe ich nicht mehr so oft geschmunzelt und bisweilen laut aufgelacht, wie während des Lesens von „Die Familien der anderen“ von Christine Westermann. Auch ich würde sie in eine Zeitreise versetzen, hätte ich, wie die anderen freundlichen Veranstalter, die Ehre sie anzukündigen, bevor sie die Bühne für eine Lesung betritt. Denn auch ich habe sie als Kind in der ZDF-„Drehscheibe“ als Moderatorin kennengelernt, vielleicht auch deshalb, weil ich mit meinem Vater nicht nur gemeinsam diese Sendung angeschaut habe, sondern auch im Anschluss „Dick und Doof“. Ich bin mir sicher, dass wir weder Obstteller oder Schnittchen vor uns hatten, aber jede/r von uns auf seine Weise im Stillen Christine Westermann ein klein wenig bewundert hat. Die hier entstehenden Fragezeichen klären sich beim Lesen des Buches. 😉

Mein Vater hätte daher sicher wie ich, seine Freude an diesem Buch gehabt, in dem die Journalistin und Autorin von ihrer eigenen, alles andere als leichten Familiengeschichte erzählt, von dem frühen Tod ihres Vaters, die zwei weiteren Ehen ihrer Mutter und den zwei jüngeren Schwestern, für die sie die Ersatzmutter war. Während Christine Westermann das rückblickend klar und dennoch mit einer dezenten Zurückhaltung beschreibt, empfiehlt sie dabei elegant Bücher, deren Grundthemen ebenso Familien mit Brüchen und Beziehungschaos beinhalten.

Bücher gehörten schon sehr früh zu ihrem Leben und nahe gebracht wurden sie ihr vor allem von ihrem Vater, mit dem sie auch viele gemeinsame Radioabende verbrachte. Da Christine Westermann schon mit dreizehn Jahren ihren Vater plötzlich verlor, fehlte von jetzt auf gleich auch der Mensch, mit dem sie sich über Literatur, Musik und Theater austauschen konnte. Als Christine Westermann mit dem Schreiben dieses Buches begann, hatte sie sich selbst das Diktat aufgestellt, „Der Zauberberg“ von Thomas Mann zu lesen, der bis dahin ungelesen im Regal stand. Parallel zu ihrer holprigen Lesearbeit, bei der sie so manches Mal mit den seitenlangen Beschreibungen von Spitzendeckchen und anderem gerungen hat, die auch Settembrinis nicht auflockern konnten, waren wahrscheinlich die Schreibarbeiten zu diesem Buch die reinste Erholung.

Mit feiner Selbstironie zeigt Frau Westermann, dass sie, durchaus ohne Germanistikstudium und der Erkenntnis, dass sie „Den Zauberberg“ nicht empfehlen wird, mit einer ansteckenden Begeisterung Bücher mit ganz unterschiedlichen Themen für alle Lebenslagen empfehlen kann. Das macht sie ohne jedes Besserwissen, ohne Ausrufezeichen, dafür aber mit humorvoller Leichtigkeit. Dabei räumt sie am Beispiel des „Zauberbergs“ charmant das Vor-Urteil beiseite, dass zum soliden literarischen Überblick des Bildungsbürgertums unbedingt das Lesen der Klassiker dazugehört. Denn ein wenig verschämt gibt Christine Westermann zu, diesen Klassiker bisher nicht gelesen zu haben. Vielleicht hat dieses Beiseiteräumen auch mit den lebensbegleitenden Selbstzweifel der vielseitigen Journalistin zu tun, der „Unsicherheit, was das eigene Urteil, das eigene Können angeht“. Etwas, was sie sympathisch und „normal“ erscheinen lässt, da sicher einige der Leser*innen diese Unsicherheiten und Zweifel von sich selber kennen.

46 Bücher bindet hier die Journalistin und Autorin ein, die sie auf ihren Lebensstationen geprägt haben. In Wirklichkeit sind es sicher tausende mehr. Dabei betrachtet sie kritisch und mit feiner Selbstironie ihre Arbeit in der Zeit von 2015 bis 2019 als Kritikerin im „Literarischen Quartett“, in der nicht selten ihr vorgeschlagenes Buch von den anderen vernichtet wurde. Im Nachhinein wäre sie gerne einfach mehr nur „Christine Westermann“ gewesen und hätte mit ihrem Stil energischer Bücher empfohlen und verteidigt. Trotzdem betrachtet sie diese Zeit als große Herausforderung und hat dadurch auch das ein oder andere Buch kennengelernt, das sie sonst nicht gelesen hätte, aber durchaus jetzt weiterempfiehlt.

Was sich hinter den Kulissen des „Literarischen Quartetts“ dann manchmal abspielte, liest man in der amüsant beschriebenen Szene über den werbenden Abdruck von Zitaten der vier Kritiker*innen auf der Buchrückseite für „Am Tag davor“ von Sorj Chalandon. Das erste Ergebnis zur Freigabe ihrer Zusammenfassung war nicht so amüsant, wie Christine Westermann es heute beschreibt, aber den Pressereferenten des Verlages, der das zuerst plump komprimierte Zitat mit klugen, treffenden wie kurzen Sätzen begradigte, schätze ich genauso wie sie.

Wem die Buchtipps aus dem „Stern“, aus den Kolumnen im „Buchjournal“ und aus der WDR-Hörfunksendung „Buchtipps“ von Christine Westermann nicht ausreichen, dabei noch neugierig auf einen Einblick in ihr Familienleben und dem von anderen ist, umrahmt von Büchern, die sie auf ihrem bisherigen Lebensweg beeinflusst haben, dem sei dieses Buch empfohlen. „Den Zauberberg“ habe auch ich vor langer Zeit angefangen und nicht zu Ende gelesen, aber mit dieser spannenden Zeitreise der facettenreichen Journalistin, Moderatorin, Literaturkritikerin habe ich viele neue Buchempfehlungen geschenkt bekommen, die ich „einfach nur so zum Vergnügen“ lesen werde. Und Sie sicher ebenso.

Sabine Wagner

 

 

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