Die Bücher, der Junge und die Nacht

Kai Meyer

Knaur HC, 02.11.2022

496 Seiten, € 22,00

 

 

 

 

Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich Fantasy-Bücher gelesen habe, aber ich erinnere mich noch gut daran, dass mich Kai Meyer`s  „Merle-Trilogie“ (2001), die „Wellenläufer“-Trilogie (2003) und „Die Wolkenvolk“-Trilogie (2006) unterhaltsam in andere Welten versetzt haben.

Da mich Titel wie Inhaltsangabe seines neuen Romans neugierig gemacht haben, gab es nach langer Zeit ein Wiederlesen mit einem der größten Autoren der deutschen Fantastik-Literatur.

Die Geschichte spielt in zwei sich abwechselnden Zeitebenen in Leipzig: 1933 und 1971.  Der etwa 10 Jahre alte Robert Steinfeld wird 1943 während eines Bombenangriffs auf Leipzig aus seinem Zimmer von einem Unbekannten gerettet. Der Unbekannte ist ein Bücherdieb, der Robert nach seiner Rettung auf Beutereisen mitnimmt, weil dieser dank seiner Größe und Zierlichkeit schneller und besser an die verschütteten literarischen Kostbarkeiten kommt als er selbst.

In Leipzig im Jahre 1933 kommt Juli Pallandt, die Tochter der großen Verleger-Familie Konrad und Aurelia Pallandt in den kleinen Laden des Buchbinders und Antiquar Jakob Steinfeld im Graphischen Viertel und bittet ihn, ihr Manuskript „Das Alphabet des Schlafs“ von S. Morena zu binden. Da ihr Vater ein großer Verleger ist Leipzig ist und schon lange versucht, Jakobs Laden zu enteignen, damit er die Einfahrt zu seiner Fabrik vergrößern kann, weigert sich Jakob, das Buch zu binden und schickt die junge Frau weg. 

Als Jakob aber einen Buchbinder-Kollege ermordet auffindet, zu dem er Juli für die Bindearbeiten geschickt hat und ausgerechnet dieses Manuskript fehlt, versucht er herauszufinden, was es mit dem mysteriösen Text auf sich hat. Doch dazu muss er Juli wiedersehen, auch wenn er diesem mit Widerwillen entgegensieht. Als es zu diesem Treffen kommt, stellen beide fest, dass sie mehr als nur die Liebe zu Büchern verbindet. Nachdem Juli ihm mehr über ihre Familie und dem Manuskript erzählt, verschwindet sie plötzlich spurlos.

München, 1971. Jakobs Sohn Robert, der wie sein Vater als Antiquar für seine Kunden wertvolle und besondere Bücher aufspürt, wird von seiner Freundin Marie, die als Bibliothekarin arbeitet, nach München gerufen. Marie hat gerade den Auftrag bekommen, die Bibliothek des gerade verstorbenen Konradt Pallandt auf Wunsch seines Sohnes Maximilians aufzulösen und zu veräußern. In dieser Bibliothek hat sie viele in dunkelrotem Leder eingebundene Bücher mit dem Stempel seines Vaters entdeckt, die allerdings alle eine Jahreszahl nach der Zerstörung der Buchbinderei von Jakob Steinfeld und des gesamten Graphischen Viertels im Jahre 1943 tragen. Doch die Qualität der Eindbindungsarbeiten, der präzise Buchschmuck unterscheidet sich nicht von den Arbeiten seines Vaters. Robert versucht mit Hilfe von Marie herauszufinden, wie die Familie Pallandt an diese Bücher gekommen ist und wer sie mit der Machart seines Vaters eingebunden hat.

Kai Meyer ist ein komplexer Roman mit einem spannenden Handlungsaufbau mit verschiedenen Erzählsträngen gelungen, in der er den Leser/die Leserin in die bedrückende und Angst machende Stimmung der aufstrebenden Naziherrschaft 1933 durch seine verschiedenen Figuren in dieser Zeit hineinversetzt, aber auch lebendig das von Umbrüchen und Neuanfängen beeinflusste Jahr 1971 beschreibt. Dem Autor gelingt es wunderbar mit bilderreichen Beschreibungen das Graphische Viertel in Leipzig vor dem lesenden Auge wieder lebendig werden zu lassen. Damals gab es in diesem Viertel über 2.000 literarische Betriebe wie Verlage, Druckereien, Antiquariate, Buchhandlungen, Buchbindereien, die nach dem Bombenangriff auf Leipzig in der Nacht vom 03. auf den 04. Dezember 1943 fast vollständig zerstört wurden und ca. 50 Millionen Bücher verbrannten. Aber auch zu den Protagonisten, egal, ob es Jakob, Juli oder Grigori im Jahre 1933 sind oder Robert und Marie Anfang der siebziger Jahre, konnte ich schnell eine Beziehung herstellen, weil Kai Meyer jede mit einem besonderen Charakter ausgearbeitet hat.

Die spannend aufgebaute und mit immer wieder überraschenden Wendungen bis zum Schluss fesselnd bleibende Geschichte erzählt von einer tiefen Liebe zu Büchern, ein wenig überspitzt, aber immer liebevoll, auch von verschrobener, schrulliger Leidenschaft der Bibliophilen zu Buchhandlungen, Antiquariaten. Robert Steinfeld geht mit seiner Freundin Marie auf eine abenteuerliche Reise in die Vergangenheit, in der ein mysteriöses Buch die Verbindung zwischen der Geschichte seiner Eltern, seiner Herkunft und der Suche nach seiner eigenen Identität wird. Mit jedem Puzzlestein bei der Zusammensetzung zwischen Vergangenheit und Realität, muss sich Robert auch immer wieder der Herausforderung stellen, Lüge und Wahrheit zu erkennen und voneinander zu trennen. Dabei lernt er sich selbst und der Wahrheit immer mehr zu Vertrauen. Vielleicht liegt es daran, dass ein großer Teil der Handlung in der düsteren Zeit von 1933 spielt, dass ich den Erzählton von Kai Meyer stringent als melancholisch empfunden habe, vielleicht ist es aber auch nur meine ganz persönliche Wahrnehmung. Begeistert hat mich bei dieser vielschichtigen Geschichte das gelungene ineinanderfließen von historischen Begebenheiten mit Realität, Fiktion und erkennbaren fantastischen Elementen.

Am Ende fügt Kai Meyer alle Erzählstränge mühelos zusammen und präsentiert damit eine spannende Identitätssuche zwischen Realität und Fantasie – und eine großartige Liebeserklärung an die Welt der Bücher.

Ein zur Handlung stimmiges Cover rundet dieses Buch wunderbar ab.

Sabine Wagner

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