Das Glück hat seine Zeit

Ayòbámi Adébáyò

Aus dem Englischen übersetzt von Simone Jakob

Piper Verlag, 29.06.2023

496 Seiten, € 26,00

 

 

 

Die 1988 in Lagos geborene Ayòbámi Adébáyò gehört zu den bedeutendsten jüngeren Schriftsteller*innen in Nigeria bzw. Afrika. Sie hat kreatives Schreiben bei Margaret Atwood und bei der nigerianischen Chimamanda Ngozi Adichie studiert und präsentiert nach ihrem internationalen erfolgreichen Debüt „Bleib bei mir“ ihren zweiten Roman mit „Das Glück hat seine Zeit“.

Der in Lagos lebende 15 Jahre alte Eniola würde so gerne zu einer der weiterführenden, privaten Universitäten gehen, wie es ihm sein Vater vor einiger Zeit versprochen hat. Doch damals war der Vater noch als Lehrer beschäftigt, verdiente gut und die Familie wohnte in einem schönen Haus in einem guten Wohnviertel. Doch nachdem der Staat willkürlich entschieden hat, dass Fächer wie Geschichte und Politik für den Lehrplan unwichtig sind, wurde sein Vater arbeitslos und das Schulgeld für Eniola und seine jüngere Schwester Besola ist kaum noch aufzubringen. Für das fehlende Schuldgeld werden die Kinder vom Schulleiter solange mit grausamer Prügel bestraft, bis es bezahlt ist. Nachdem Eniolas Vater keine andere Stelle findet, ist er zusehends mutloser geworden und an einer Depression erkrankt, die ihn nur noch statisch im Bett liegen lässt. Seine Ehefrau versucht mit Betteln mehr schlecht als recht das Essen für die vierköpfige, oft hungernde und in Armut gerutschte Familie auf den Tisch zu bekommen. Da die Familie glaubt, dass Besola die Intelligentere der beiden Kinder ist und sie der kostspieligen Schullaufbahn gerechter wird, muss Eniola auf eine staatliche und damit deutlich schlechtere Schule gehen. Da er schon seit einiger Zeit in Aunty Caros Schneiderei aushilft, soll er dort zukünftig eine Ausbildung als Schneider absolvieren. In dieser Schneiderei lernt Eniola die wohlhabende Yeye kennen, die für ihre Tochter Wuraola ein Kleid maßschneidern lässt und ihn für seine Arbeit mit einem großzügigen Trinkgeld belohnt.

Wuraola ist Assistenzärztin und stammt aus einem privilegierten, wohlhabenden Haus wie ihr Freund Kunle. Kunles Vater soll bei den nächsten Wahlen als Gouverneur kandidieren und bittet Wuraolas Vater um finanzielle Unterstützung, der aber bereits den amtierenden Gouverneur finanziert. Eine heimliche Geldzuwendung an seinen Gegner wäre für Wuraolas Vater und dessen Familie ein gefährliches Unterfangen. Beide Familien gehen von einer bevorstehenden Verlobung von Kunle und Wuraola aus, durch die sich der Familienverbund stärkt und das Wohlhaben vermehrt.
Die junge Wuraola sieht der Verlobung und späteren Heirat mit Freude, aber auch mit Angst entgegen, denn Kunle ist krankhaft eifersüchtig und unbeherrscht wird er ihr gegenüber immer öfter gewalttätig. Während Wuraolas Mutter Yeye das nicht sehen will, sondern nur Sorge um das gesellschaftliche Ansehen ihrer Tochter hat, die immer noch nicht verheiratet ist und kinderlos ist, hat Wuraolas jüngere und rebellische Schwester Motara einen klaren Blick für die gewalttätigen Übergriffe des Verlobten ihrer Schwester. Obwohl sie offen mit Wuraola darüber spricht und sie vor einer Verlobung und gar Heirat warnt, weist ihre ältere Schwester zunächst alle Warnungen und Vorbehalte zurück und Motara mit Ungezogenheit und Frechheit in ihre Schranken ein.

Die Schneiderei von Aunty Caro ist der Ort, an dem die völlig unterschiedlichen Klassen von Arm und Reich mit Eniola und der Familie von Yeye und Wuraola aufeinander treffen und sich im im letzten Teil des Romans auf tragische Weise verbinden. Eniola wird von Schulkameraden zur Leibgarde des amtierenden Gouverneurs rekrutiert, die mit brutalen Gewaltakten ihr Ziel durchsetzen. Zunächst erfasst Eniola nicht die Machenschaften, in die er unwissentlich und naiv hineingerutscht ist. An einem bestimmten Punkt gibt es für ihn kein Zurück mehr, außer er begeht Verrat.

Der Roman baut sich abwechselnd mit der Entwicklung der beiden Figuren des jugendlichen Eniola und der jungen Frau Wuraola und ihren jeweiligen Familien auf.         Ayòbámi Adébáyò beschreibt intensiv den großen Zwiespalt zwischen Arm und Reich und der männerdominierenden Gesellschaft. Obwohl die junge Wuraola Assistenzärztin ist, steht sie weiterhin unter strenger familiärer Aufsicht und dem Druck von beruflichen Erfolg, Strenge und Disziplin. Das Präsentieren nach außen von pflichtgehorsamen, gesellschaftlichen Ansehen ist wichtiger als persönliche Zufriedenheit und Balance. Daher nimmt Wuraola fast eher einen gewalttätigen Ehemann in Kauf, als die Warnungen ihrer Schwester ernst zu nehmen und für ihre Unabhängigkeit einzustehen. Wuraola lebt trotz Wohlstand in einem engen familiären wie gesellschaftlich-patriacharlichen Rahmen. Sie übernimmt die untergeordnete Rolle, die für ihre Mutter bereits eine Selbstverständlichkeit war und ist, auch wenn diese heimlich Rücklagen für einen „Notfall“ gesammelt hat.
Da die Autorin Tochter einer Ärztin ist, die an einer Universität unterrichtete, kann man von eigenen Erfahrungen der privilegierten, wohlhabenden Schicht in dem engen gesellschaftlichen Rahmen ausgehen, die sie hier kritisch spiegelt.
Mit dieser Geschichte präsentiert Ayòbámi Adébáyò das gesellschaftliche Gefüge zwischen Arm und Reich in Nigeria, die kulturellen Konflikte zwischen der jungen und älteren Generation vor dem Hintergrund staatlicher Willkür und politischer Korruption, die vor brutaler Gewalt zur Zielerreichung nicht zurückschreckt.
Auch wenn an einigen Stellen die Übersetzung (Simone Jakob) holperig wirkt (z.B. wird auf Seite 351 ein großer Schal als „Satinding“ bezeichnet) ist es ein beeindruckender wie bewegender Roman. Gewünscht hätte ich mir aber ein Glossar am Ende des Romans oder Fußnoten mit kurzen Erläuterungen der vielen afrikanischen Begriffen (Speisen, Kleidung etc.), die nicht übersetzt wurden.

Allerdings ist es mir ein Rätsel, warum der Verlag den passenden Original-Titel „A Spell of Good Things“ mit „Das Glück hat seine Zeit“ übersetzt hat, der meiner Meinung so gar nicht zum Inhalt passt und eher einem kitschigen Liebesroman zuzuschreiben ist. Das Cover dagegen ist sehr schön und passt.

„Das Glück hat seine Zeit“ wurde gerade auf die Longlist des mit 50.000 Pfund dotierten Booker Prize 2023 nominiert, die Shortlist wird am 21. September 2023 veröffentlicht.

Sabine Wagner

 

 

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