Yoga Town

Daniel Speck

Fischer Verlag, 18.10.2023

480 Seiten, € 25,00

 

 

 

 

Der 1969 in München geborene Daniel Speck ist nicht nur ein mit dem Grimme-Preis und Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichneter Dramaturg und Drehbuchautor, sondern auch Bestsellerautor der Romane „Bella Germania“, „Piccola Sicilia“ und „Jaffa Road“, die von familiengeschichtlichen Wurzeln oder der Diskriminierung durch religiöse Identität erzählen.In seinem neuen Roman „Yoga Town“ entführt uns Daniel Speck aus der Gegenwart in das Jahr 1968 nach Indien, genauer gesagt nach Rishikesh, wo damals Guru Maharishi sein abgeschottetes Meditations-Camp führte.

Bei Marcs Geburt stirbt die Mutter und der alleinerziehende, überforderte Vater überträgt Marcs drei Jahre älteren Bruder Lou in vielerlei Hinsicht die Aufgabe, sich im besonderen Maße um Marc zu kümmern. Lou nimmt diese Aufgabe ohne Eifersucht und mit Liebe bis hin ins Erwachsenenalter ernst.
Als junge Erwachsene träumen die beiden Brüder von einem Leben als Musiker, wobei Marc der talentiertere ist, dem Rhythmus und Melodien im Blut liegen. Lou hat schon länger eine feste Freundin, Marie, während Marc, der wildere, charismatischere der Beiden, das Leben in vollen Zügen genießen will. Er kann irgendwann die Enge, Spießigkeit und Melancholie im Hause seines Vaters nicht mehr ertragen und will mit seinem Bruder nach Indien. Während Lou an dieser Idee wie an seinem Talent als Musiker zweifelt und ihm Willenskraft fehlt, gibt Marc kurz entschlossen seinem Bruder und Marie die Entscheidung vor. Weihnachten 1967 stürzen die Drei sich Hals über Kopf auf einen Trip Richtung Indien. Auf ihrer Reise gabeln sie Corinna auf, eine wunderschöne, junge Frau mit einer faszinierenden, geheimnisvollen Unnahbarkeit, die die drei auf ihrem Trip mit Ziel Rishikesh begleitet. Die Drei stranden in dem Ashram von Guru Maharishi, in dem sie love, peace and freedom durch Mediation und neue Bewusstseinsebenen finden wollen.

Zur gleichen Zeit suchen in diesem Camp am Ganges 1968 auch die Beatles gemeinsam mit den Beach Boys, Donovan, Mia Darrow und ihrer Schwester Prudence ihren persönlichen „peace of mind“. Lou fühlt sich mit seinen Gefühlen immer mehr zwischen Marie und Corinna hin und her gerissen, während Marc ihm rät, das Leben leicht zu nehmen und die freie Liebe zu genießen. Das im Mediatationscamp verbotene Gras und Dope lassen Marc, aber auch andere, souverän das strenge Regelwerk im Ashram vergessen. Die Zeit in diesem Mediationscamp wird für Lou, Marc, Marie und Corinna eine Zerreißprobe, die alle an ihre Grenzen bringt und ihr Leben für immer verändert.

„Wir fuhren zu dritt los und kamen zu dritt zurück. Aber nicht in derselben Besetzung.“

Gegenwart. Lucy, die Tochter von Louis und Corinna, ist Yoga-Lehrerin in Berlin, in einer eigentlich glücklichen Patchwork-Beziehung mit Adnan und seinen beiden Kindern. Eigentlich war alles gut, bis sie vor kurzem ein mysteriöses, übersinnliches Erlebnis hatte, das Lucy ihr Leben in Frage stellen und sie in eine Krise stürzen lässt. Als Lucys Mutter Corinna verschwindet, die als erfolgreiche aber mittlerweile zu alte Moderatorin ausgemustert wurde, suchen Lucy und Lou sie zunächst erfolglos, bis sie einen Hinweis bekommen, dass sie sich wohl in Indien aufhält. Lucy kennt von ihrem Vater Lou viele Geschichten über Indien, doch so zahlreich diese sind, vieles bleibt für sie auch bei hartnäckigen Nachfragen unbeantwortet. So zum Beispiel, woran der Bruder ihres Vaters in Indien gestorben ist. Mit Lou reist Lucy nach Rishikesh, wo sie Corinna vermuten. Lucy hofft, dass sie dort, dem Geburtsort des Yoga, nicht nur ihre Mutter, sondern auch Antworten für ihre persönlichen Lebensfragen findet. Was sie nicht ahnt ist, dass sie bei dieser Reise auch die wahre Geschichte ihrer Eltern herausfindet, die 1968 in Rishikesh ihren Anfang nahm.

Daniel Speck erzählt eine komplexe Familiengeschichte und großartigen Trip zwischen der Hippiezeit 1968 und der Gegenwart in abwechselnden Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven: Lucy als Ich-Erzählerin in der Gegenwart und in der Vergangenheit aus der auktorialen Perspektive. Damit baut der Schriftsteller sehr raffiniert eine fesselnde, dynamisch entwickelnde Handlung auf, die die Lebenskrise der gegenwärtigen Lucy mit der Familiengeschichte ihrer Eltern, deren Zeit mit den Beatles und anderen Künstler*innen im Ashram des Guru Maharishis miteinander verknüpft. Lucys Nachforschungen nach ihrer Mutter weiten sich aus auf ihre bisher unbeantworteten Fragen nach ihren familiären Wurzeln.

Was Lucy in der Gegenwart mit Lou, Marc, Marie und Corinna und anderen Hippies im Jahr 1968 vereint, ist die spirituelle Suche nach Identität, Geborgenheit und dem persönlichen Seelenfrieden, dem „peace of mind“. Dieses Thema und der positive Einfluss von Yoga auf Körper und Geist ziehen sich als roter Faden durch die Geschichte.
Bis auf Lucys transzendentales Erlebnis, dass sie in ihre Lebenskrise fallen lässt und für mich leider ein „touch too much“ ist, hebt sich die Story nicht in esoterische Exzentrik ab.

Obwohl Marc, Lou, Marie und Corinna mit vielen anderen aus dem engen, konservativen Leben der Endsechziger ausbrechen und im Ashram Maharishis eine neue Freiheit erhoffen, erkennen sie zunächst nicht den Widerspruch, dass sie hier mit einem monetären Eintrittsgeld einem neuen, durch den Guru willkürlich auferlegten dominanten Regelwerk gegenüberstehen. Ein Regelwerk, das zunächst vermeintlich mehr Freiheit bietet als das Leben daheim. Daniel Speck beleuchtet und hinterfragt zugewandt aber auch kritisch das Leben der Hippies in Maharishis Ashram. Faszinierend lässt der Autor mit atmosphärisch starken Bildern das Rishikesh von 1968 lebhaft beim Lesen im Kopf entstehen, aber auch, wie der Ort heute aussieht, teils verändert oder an anderen Stellen wie vor fünfzig Jahren.

Neben den Familienfragen, der spirituellen Suche nach dem Sinn des Lebens, steht auch die Musik der Endsechziger Jahre im Focus. „Das Weiße Album“ der Beatles entstand während ihrer Zeit in Rishikesh und man kann ihnen in dieser Geschichte regelrecht zuschauen und zuhören, wie die Songs entstanden sind.
Daniel Speck baut geschickt und sorgfältig recherchiert die passenden aktuellen Songs dieser Zeit ein, die den Gefühlen, die beim Lesen unweigerlich entstehen, einen intensiven aber nicht aufdringlichen Sound schenken.
Diesen abgestimmten Sound mit allen im Buch genannten Liedern kann man auf den gängigen Streaming-Portalen unter der Playlist „Yoga Town“ hören.

In der Mitte des Buches empfand ich eine leichte Länge, dennoch hat mich die Geschichte begeistert und gefesselt. Und wenn mir auch die Musik der Beatles und Co. fern ist, hat mich das Buch daran erinnert, die eingeschlafenen Yoga-Übungen wieder aufzufrischen.

Ein wunderschönes Cover auf dem Buchumschlag, passend ergänzt mit den orange-pinken Spiralen auf dem Buchdeckel, ein beigelegtes Lesezeichen mit einem Foto auf dem die Beatles, Guru Maharishi und andere Teilnehmer aus dem Ashram zu sehen sind, runden diese Zeitreise aus der Gegenwart nach Rishikesh 1968 und einer komplexen, tiefgründigen Familiengeschichte perfekt ab.
Ein großartiges Lesevergnügen.

Sabine Wagner

Ein Interview mit Daniel Speck zu diesem Buch liest man hier.

 

 

 

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