Christian Schünemann
Diogenes, ET 26.02.2025
256 Seiten, € 25,00
Christian Schünemann, 1968 in Bremen geboren und in Berlin lebend, hat in Berlin und Sankt Petersburg Slawistik studiert. Mit seinem 2004 erschienen Krimi-Debüt „Der Friseur“ hatte er auf Anhieb großen Erfolg, den er mit einer Reihe um den Starfriseur Tomas Prinz fortsetzte. Darüber hinaus schreibt er gemeinsam mit Jelena Volič Kriminalromane über die serbische Amateurdetektivin Milena Lukin. „Bis die Sonne scheint“ ist ein sehr persönlicher Roman, in dem er sich mit Erinnerungen über seine Eltern und Familie auseinandersetzt und sie in eine fiktionale Geschichte verarbeitet hat.
Es ist 1983, Daniel Hormann, Erzähler der Geschichte, ist mit 15 Jahren der Jüngste von drei weiteren Geschwistern. Die Familie lebt in Heilshorn, einem kleinen Dorf in der Nähe von Osterholz-Scharmbeck in Niedersachsen. Daniel wünscht sich zu seiner Konfirmation ein blaues Samtsakko und eine graue Flanellhose. Doch trotz aller Versprechungen wird er diese Kombination nicht tragen, denn die Familie ist pleite. Aber weder Oma Lydia und Oma Henriette, noch irgend jemand anders sollen von der Pleite erfahren, selbst den Kindern wird die Tatsache lange vorenthalten. Nachdem die Bank keinen Kredit mehr gewährt, steht irgendwann der Gerichtsvollzieher vor der Tür und ein Kuckuck klebt auf der Innenseite des Klaviers und hinten am Fernseher, an Stellen, die man glücklicherweise auf Anhieb nicht sofort sieht. Während für andere Sachen interessanterweise Geld da ist, kann der Besuch zum französischen Austauschschüler Jean-Philippe nicht finanziert werden. Daniel ist schwer enttäuscht, denn er hatte sich mit Jean-Philippe bei seinem Austausch-Besuch wunderbar verstanden, wobei ihn diese Nähe auch verwirrt hat.
Zoe Schlüter ist Daniels beste Freundin, deren Mutter vor einiger Zeit mit ihrem silbernen Chevrolet auf der B 6 den geliebten R4 von Daniels Mutter zu Schrott gefahren hat. Mit Zoe kann sich Daniel offen über seine Familie austauschen, denn auch ihre eigene ist nicht unkompliziert. Zoes Eltern sind aus der DDR geflüchtet, der Vater hat Karriere bei Radio Bremen gemacht und aktuell eine gut aussehende Geliebte, Betti. Frau Schlüter tröstet sich mit Alkohol und hat nur noch wenig Kontakt zu Zoe.
Daniels Vater, Siegfried Hormann, hat in den 70er Jahren zum Unverständnis seiner Mutter seine feste Beamtenstelle als technischer Zeichner bei der Oberfinanzdirektion in Bremen aufgegeben, um in der freien Wirtschaft mehr Geld zu verdienen und Erfolg zu haben. Er gründet die „Hormann Massiv Bau“ und verdient erst einmal so viel Geld, dass er einen großen Bungalow mit Swimmingpool für seine wachsende Familie in dem kleinen Kaff Heilshorn bauen kann. Seine Frau Marlene, die einst andere berufliche Pläne hatte, erledigt neben Haushalt und Kindererziehung die Buchhaltung und Büroarbeiten ihres Mannes. Obwohl sie nach außen eine gut situierte Familie mit vier Kindern, großem Haus und Hund darstellen, ist Marlene mit ihrem Leben nicht glücklich. Insgeheim hängt ihr Herz noch immer an ihrer Jugendliebe Hugo, der ihr versprochen hat, dass sie immer zu ihm kommen kann, wenn sie ihn braucht.
Der Autor Christian Schünemann nimmt den Leser mit seinem sympathischen Protagonisten Daniel und seiner Familie auf eine facettenreiche Reise in die 80er Jahre mit vielen gut platzierten Wiedererkennungsmerkmalen mit. Daniel betrachtet kritisch das Tun seiner Eltern und ist vielleicht der Einzige, der die Scheinheiligkeiten und das Vertuschen des finanziellen Desasters durchschaut. Erfrischend klar und offen denkt Daniel über seine Familie nach, manchmal ist sein Ton nüchtern und berichtet reportartig einzelne Fakten. Mit abwechselnden Perspektiven in die Vergangenheit erweitert Christian Schünemann die Zeitreise, die vom Aufwachsen Daniels Eltern und die Hintergründe derer Familien, die noch von den Folgen des zweiten Weltkriegs geprägt sind erzählen. Ingeborg, die Schwester von Daniels Mutter, die als junge Frau mit ihrem deutschen Mann in die USA nach Chicago auswanderte, ist aus dieser Entfernung immer wieder ein Rettungsanker für Daniels Familie.
Die Tatsache, dass die Baufirma von Daniels Vater in den 80er Jahren pleite gegangen ist, ist aus heutiger Sicht nachvollziehbar und kein Einzelfall. Speziell dagegen erscheint der Umgang Daniels Eltern damit, dass man nach wie vor Geld ausgibt, das nicht da ist und so tut, als wäre alles in bester Ordnung, wenn man Daniel um sein Konfirmationsgeld für Geschenke an anderer bittet, obwohl dieser damit seinen Schüleraustausch nach Frankreich bezahlen wollte. Daniels Eltern sind mit ihrer finanziellen Achterbahnfahrt begnadete Verdränger der Realität und gleichzeitig unglaubliche Lebenskünstler, für die das Glas stets halbvoll ist. Trotz finanziellem Chaos strahlen sie eine Ruhe und Stabilität auf ihre Kinder aus und versuchen, mit neuen Geschäftsideen immer wieder die Füße auf den Boden und Geld in die Familienkasse zu bekommen, was nur bedingt erfolgreich ist.
Am Ende hoffen die Eltern auf einen Neubeginn machen sich auf Richtung Süden, „bis die Sonne scheint“ und Daniel hofft auf ein Wiedersehen mit Jean-Philippe. Ob es ein erneutes Weglaufen vor den Realitäten ist oder die Eltern einen stabilen neuen finanziellen Boden unter den Füßen bekommen bleibt offen, was Raum zur zur Spekulation lässt, wie das Leben der Eltern und der vier Kinder weitergegangen sein könnte. Es scheint jedoch, dass die Ausstrahlungskraft von innerer Ruhe und Sicherheit der Eltern sich auf den Protagonisten übertragen hat, der sie mit kritischer Reflexion erweitert.
Christian Schünemann ist in der Aufarbeitung seiner eigenen Familie eine intensive und komplexe fiktionale Familiengeschichte sowie ein wunderbares Stück Zeitgeschichte gelungen, das sich mit einem erfrischenden Protagonisten von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd liest.
Das Cover passt stimmig.
Sabine Wagner