Oma, die Miethaie und ich

Tanya Lieske

Beltz & Gelberg, Juli 2012

208 Seiten, €  12,95

ab 8 Jahre

 

 

Inhalt:

„Waisenkinder brauchen viel Liebe und jede Menge Eiscreme“ – Das ist ein Grundsatz und eine Lebenseinstellung von Oma Henriette Meister, mit der sie sich um ihre Enkelin Salila kümmert. Salilas Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben und seitdem sind sie und ihre Oma ein starkes Frauenduo. Sie leben in einem alten, heruntergekommenen Haus in Düsseldorf-Bilk und Oma verdient ihr Geld mit Reparaturarbeiten aller Art und dem An- und Verkauf von Ersatzteilen, man könnte sie auch als unkonventionelle Lebenskünstlerin bezeichnen. Mit sehr viel kreativer Leichtigkeit und noch mehr Liebe ist sie für ihre Enkelin eine starke Stütze, ein Fels in der Brandung. Salila ist zwar eine sehr gute Schülerin, aber, nicht unbedingt von ihr so gewollt, eine Einzelgängerin. Als die beiden eines Tages im Fernsehen einen Bericht über ihr Stadtviertel sehen, in dem erzählt wird, dass die alten, baufälligen Häuser kernsaniert und in schöne neue, aber auch teure Wohnungen verwandelt werden, wird Oma klar, dass die Miethaie kommen. Sie erklärt Salila, was es damit auf sich hat und das Mädchen hat Angst, dass sie aus ihrer geliebten Wohnung raus müssen. Als Salila dann Briefe findet, in denen erklärt wird, warum auch die Wohnungen in ihrem Haus renoviert werden und auch das Wort Wohnungskündigung fällt, wird sie misstrauisch. Sie stellt ihrer Oma Fragen und merkt, dass diese überhaupt nicht den Inhalt der Briefe kennt, was Salila verwirrt. Langsam wird ihr klar, was die vielen Zeichnungen und gemalten Notizen, mit denen sie sich Nachrichten austauschen, bedeuten. Salila versucht herauszufinden, warum ihre Oma sich so merkwürdig verhält und kämpft darum, in der Wohnung zu bleiben. Doch wie soll ein zehnjähriges Mädchen das alleine schaffen?

Rezension:

Tanya Lieske hat mutig mehrere und ungewöhnliche Themen in ihrer Geschichte kombiniert: Analphabetismus, die gnadenlose Umwandlung alter, baufälliger Häuser in neue, schicke und sehr teure Wohnungen, verbunden mit dem Rausschmiss der langjährigen Bewohner, die besondere Situation, dass Salila bei ihrer Oma aufwächst und am Rande das Miteinander verschiedener Kulturen. Diese Vermischung könnte dazu führen, dass alles nur oberflächlich oder mit Klischees behaftet gespiegelt wird, was die Autorin geschickt umgangen ist. Mit humorvoller und trotzdem tiefsinniger Leichtigkeit gelingt ihr die Kombination der vielschichtigen Themen. Trotz der schwierigen Komplexität entstehen erfreulicherweise keine Klischees noch entsteht ein Bombardement an Tragik und Traurigkeit. In einer erfrischenden, leichten Sprache aus der Perspektive von Salila bleibt die Autorin klar und eindeutig, auch wenn es unangenehm wird. Oma Henriette ist für Salila Mutter und Oma in einer Person und trotz ihrer unkonventionellen Einstellungen ein Fels in der Brandung. Dass sie sich kleine Nachrichten nicht mit geschriebenen Worten austauschen sondern mit kleinen Gemälden, hält Salila zunächst noch für eine weitere Besonderheit ihrer Oma, die eben insgesamt anders ist wie andere. Erst als das Mädchen die Briefe entdeckt und feststellt, dass die Oma gar nicht die Inhalte kennt, wird sie misstrauisch und nachdenklich. Sie begreift langsam, mit welch raffiniertem System ihre Oma sich bisher durchlaviert und ihr Geheimnis verborgen hat. Salila begreift, was ihre Oma und vielleicht auch sie selbst, nicht wahrhaben will. Jetzt entwickelt sie sich zur Stütze – für ihre Oma. Tanya Lieske zeigt, dass auch Erwachsene Schwächen zugeben müssen und nicht perfekt sind. Auch wenn sie das Allzugerne glauben.

Die Tatsache, dass Salila ihre Mutter bei der Geburt verloren hat, bindet die Oma auf eine warmherzige Weise in den allabendlichen „Dreierschwatz“ ein. Eine wunderschöne Tradition vor dem Einschlafen, indem Oma und ihre Enkelin den Tag noch einmal Revue passieren lassen und der Mutter/Tochter davon erzählen. Salila liebt es zu malen und zeichnet parallel zur Geschichte einen Manga. Was für ihre Oma eine Notwendigkeit der Mitteilung ist, hat sich für ihre Enkelin als talentierte künstlerische Ausdrucksmöglichkeit entwickelt. Dieser Manga entwickelt sich parallel zur Hauptgeschichte; hier reflektiert Salila das, was sie um sie herum geschieht in ihrer eigenen erfundenen Geschichte. Eine faszinierende wie gut gemachte Verbindung. Ebenso originell zeigt sich Salilas Liebe zu Wortspielereien mit ihrer Aufstellung von Zwillingswörtern, herrlich beispielsweise die Verbindung Er-blasser und  Erb-lasser.

Ein Kinderbuch mit zwei ungewöhnlichen und nicht unproblematischen Grundthemen, die aber durch kluge Heiterkeit und einer klaren, schlüssigen Geschichte, die zum Nachdenken anregt, rundum überzeugt. Analphabetismus bei Erwachsenen und die Gentrifizierung sind zwei Tatsachen, die leider aus Scham und Angst verheimlicht sowie aus sozialwirtschaftlichen Gründen verschwiegen werden. Diese Geschichte macht Mut, dass jeder seine Geheimnisse haben darf, man aber keine Scham haben sollte, zu seinen Schwächen zu stehen. Denn wie sagt Oma Henriette: „Angst ist was für Feiglinge“. Und seine Schwächen offen zu zeigen, bedeutet manchmal eben viel Mut.

Das Cover und die Innenillustrationen von Daniel Napp gefallen und geben die jeweilige Situation stimmig wieder. Leider unnötig der Hinweis auf dem Buchdeckelklappentext, der das Geheimnis von Oma Henriette bereits viel zu früh verrät. Schade.

Sabine Hoß

Bewertung:

Ein Interview mit der Autorin findet Ihr hier:

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