Anders

Anders KLEIN

Andreas Steinhöfel

Umschlag und Vignetten von Peter Schössow

Königskinder (Carlsen), November 2014

240 Seiten, € 16,90

Ab 12 Jahren

 

 

Andreas Steinhöfel ist ein vielfach ausgezeichneter Autor, Drehbuchautor und Übersetzer, zu dessen bekanntesten Werke die „Rico und Oskar“-Bücher gehören wie auch „Die Mitte der Welt“. 2013 erhielt der 1962 geborene für sein vorläufiges Gesamtwerk den Sonderpreis des Deutschen Jugendliterturpreises.

Drei Jahre ist es her, dass das dritte und vorerst letzte Buch von „Rico und Oskar“ (und der Diebstahlstein“) erschienen ist. „Anders“ ist sein erstes Buch, das im neuen Imprint „Königskinder“ des Carlsen Verlages erscheint.

Felix Winter liegt seit einem Unfall Anfang Oktober im Koma. 263 Tage lang. Exakt die Zeitspanne, die seine Mutter vor elf Jahren mit ihm schwanger war. An einem Sommertag erwacht er zur Überraschung aller aus der tiefen Bewusstlosigkeit. Felix kann sich an nichts mehr vor dem Unfall erinnern. Er weiß zwar, was eine Familie oder eine Schule ist, aber nicht, wer seine Eltern sind, seine Freunde, was er mag oder ablehnt, hat auch die Fähigkeit verloren, Inhalte mit Gefühle und Emotionen zu besetzen. Während sein Vater sich Mühe gibt, seinen Sohn neu kennenzulernen, hadert die Mutter dagegen sehr mit ihm. Bis zu dem Unfall hat sie das Familienleben in einem eng abgesteckten Rahmen geplant. Ein Ausbrechen nach rechts oder links war nicht möglich, jede ungeplante Veränderung wurde verhindert und verdrängt. Mit der ungeplanten, völligen Wesens-Veränderung ihres Sohne kommt sie nicht zurecht. Felix kehrt als hochsensibler Junge nach Hause zurück, trotzdem kann er Gefühle für Menschen ausdrücken und ersetzt sie mit Farben und Musikklängen. Auch er muss mit der Tatsache fertig werden, dass er nichts von seinem alten Leben kennt und nennt sich von nun an „Anders“. Vor dem Unfall hat er in Mathe Nachhilfe bei dem alten Stacke bekommen, der ein ruhiges Leben führte, bis sein großer Hühnerstall abbrannte und man ihn der Brandstiftung verdächtigte, was allerdings nie belegt wurde. Anders stellt eine Affinität zu Zahlen und Rechenspielen fest, was ihm früher fremd war. Doch das ist nicht das einzige, was sich bei ihm verändert hat. Er ist nicht mehr der langweilige, zurückgezogene, vorsichtige Junge, der kaum auffiel, ganz im Gegenteil. Jetzt freundet er sich mit den beiden Jungen Nisse und Ben an, die ihn vor dem Unfall gehänselt haben. Während sein Vater sich auf die Wesensveränderungen seines Sohnes einlässt, scheint die Mutter daran zu zerbrechen. Auch die Lehrerin ist verwirrt und hilflos über die markanten Veränderungen ihres alten, neuen Schülers. Anders neue Lebenseinstellungen hat aber noch weitere Folgen…

Andreas Steinhöfel ist eine Geschichte gelungen, die zwischen Tragik und Komik changiert. Seine Sprache zeigt eine glasklare und intensive Beobachtungsgabe unterschiedlichster Charaktere und Figuren. Da ist die nervende Nachbarin Hildegard  genauso ausgefeilt und vielschichtig wie Felix (Anders) angelegt. Eine besondere Tragik bietet das Familienbild von Anders. Die Mutter versucht mit verzweifelter Kontrolle und ebensolcher Planung das Leben ihres Sohnes, ihres Mannes und letztlich auch ihr eigenes in feste Bahnen zu pressen, das zum Scheitern verurteilt ist, da sie allen die Luft zum Atmen nimmt. Der Unfall und vor allem die Wesensveränderungen durch die Gedächtnislosigkeit ihres Sohnes lässt diese Einheit sichtbar auflösen. Der Vater ahnt, dass Felix vor dem Unfall in irgendeine Sache verwickelt war, weiß aber nichts genaues, genauso wenig wie seine Klassenlehrerin, die sich Sorgen um ihren Schüler macht. Nur die Mutter verdrängt alles und will von unangenehmen Tatsachen nichts wissen. Ihr Sohn entspricht nicht mehr ihrem Plan, ihrem Bild und scheint aus dem Spiel ihres Lebens herausgefallen zu sein.

Nüchtern, ohne Schnörkel präsentiert der Autor ein schonungslos offenes Bild einer von außen erscheinenden „normalen“ Familie, die innerlich schon lange zerrüttet ist. Raffiniert vebindet Steinhöfel verschiedene Erzählstile wie Polizeiprotokolle, Märchenelemente, Zeitungsartikel in seine Geschichte, die trotzdem eine Struktur ergeben. Obwohl Felix/Anders nach seinem Unfall die Fähigkeit hat, einen sehr persönlichen Einblick in das Leben von Anderen zu haben, hat er ein Defizit an Reflexion. Und genau das hält den Leser immer ein wenig auf Abstand, was seltsam ist, aber trotzdem fasziniert.

Ebenso fügt sich die Legende einer schwarzen Nixe am Erler Loch ein, die für Felix eine lebensgefährliche, magische Anziehungskraft besitzt. Wie spannend und belastend das Leben zwischen einer beobachtenden Kleinstadt und der Weite und Kraft der Natur ist, wird schon fast philosophisch greifbar gemacht.

Andreas Steinhöfel präsentiert teilweise mit sarkastischem Unterton vielschichtige Charaktere und einer klaren und trotzdem tiefgründigen atmosphärischen Sprache das Psychogramm einer sich auflösenden Familie. Felix Mutter, die ihren Sohn nur so akzeptieren kann, wie er in ihrer Vorstellung sein soll, wird in ihren Schwächen offen gelegt, ohne sie aber wirklich bloß zu stellen. Spannend und von hinten aufgerollt wird „die Sache“, in der Felix vor dem Unfall verwickelt war und ihn irgendwann wieder einholt. Sie entwickelt sich mit spannenden Überraschungen und einem dramatischen Höhepunkt am Schluss und erklärt, unter welcher Last Felix vor dem Unfall gestanden hat.

Letztlich bleibt die Frage, ob man daran zerbricht oder als Beginn für etwas neues, spannendes annimmt, wenn ein Kind sich anders entwickelt, als die Vorstellung von seinem Bild und Wunschdenken.

Die polarisierende Geschichte, die einer Parabel ähnelt, ist sicher keine leichte Kost, aber eine, die nachdenklich macht und lange nachhallt. Auch wenn ich den Kunstbegriff „all age“ nicht mag – dieses Buch ist für Jugendliche wie für Erwachsene absolut empfehlenswert.

Das schlichte, weiße Cover (P. Schössow) mit dem passend halbiert gezeichneten Jungenkopf ist ein eleganter und auffallender Hingucker. Ebenso die nüchternen, mit klarem Strich gezeichneten Bildern  in einem künstlich wirkenden Gelbton von Peter Schössow am Anfang jeden Kapitels.

Sabine Hoß

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