Vom Aufstieg und anderen Niederlagen

Vom Aufstieg und Niederlagen KLEIN

Giovanni di Lorenzo

Kiepenheuer & Witsch, Oktober 2014

352 Seiten, € 18,99

ab 16 Jahre

 

 

 

Giovanni di Lorenzo, 1959 in Stockholm geboren, ist durch seine Präsenz als Gast in zahlreichen Talkshows ein medienbekannter Journalist, wobei er seit 1989 die Fernsehtalkshow „3 nach 9″von Radio Bremen moderiert. 1999 wurde er Chefredakteur der Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel“, für die er heute als Herausgeber verantwortlich ist. Davor arbeitete er als politischer Reporter und Leiter des Reportageressorts „Die Seite Drei“ bei der Süddeutschen Zeitung.  Seit 2004 ist er Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“. Auch als Autor macht er sich einen Namen: „Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt“ und Verstehen Sie das, Herr Schmidt?“ (KiWi, 2009 und 2012) wie auch „Wofür stehst Du?“ mit Axel Hacke (KiWi 2010).

Akribische Recherche über den Gesprächspartner ist die Grundlage für ein solide vorbereitetes Interview. Dabei weiß man nicht, in welcher Tagesform man sein Gegenüber erwischt, ob gerade wirklich Offenheit und Lust auf kritische, nachhakende oder auch völlig überraschende Fragen da sind. So bereitet sich auch Giovanni di Lorenzo nach eigener Aussage möglichst umfassend auf seine Gesprächspartner vor: „Das macht mich sicher, vor allem aber vermittelt es gerade den Persönlichkeiten, die als schwierig gelten, ein Gefühl von Respekt. Wenn es dann richtig losgeht, habe ich allerdings kaum mehr als eine beschriebene Karteikarte dabei. Nie formuliere ich vorher schon Fragen aus.“

Doch die beste Vorbereitung nutzt nichts, wenn man als Fragesteller nicht die nötige und darüber hinaus gehende Empathie für seinen Interviewpartner hat, feinfühlige Schwingungen und die „Chemie“ dazwischen wahrzunehmen und entsprechend wendig zu agieren, ohne von seinem eigentlichen Kurs abzukommen. Diese „Technik“ und dieses Talent hat Giovanni die Lorenzo zu eigen und im Laufe seines Berufslebens ausgefeilt. Hat er am Anfang seiner Arbeit noch auf die Achillesferse, der Schwachstelle seines Gesprächspartners gezielt, lässt er heute seinem Gegenüber mehr Raum und Freiheit, ohne auf kritisches Nachhaken, wenn es nötig ist, zu verzichten.

„Vom Aufstieg und anderen Niederlagen“ umfasst 20 Gespräche aus drei Jahrzehnten mit Prominenten wie Schauspieler wie Armin Mueller-Stahl, Sportler wie Boris Becker und Giovanni Trapattoni, Politiker wie Helmut Schmidt, Petra Kelly, Hans-Jürgen Wischnewski und Joachim Gauck. Sie alle wurden an Wendepunkten ihres Lebens interviewt. Wendepunkte, die von einem Aufstieg oder einer Niederlage gekennzeichnet waren. Nun mag ein Prominenter in einer solchen Situation, insbesondere der einer Niederlage, besonders empfindlich und sorgsam in der Auswahl des Fragestellers zu sein. Und der Fragestellende Journalist entsprechend bedacht, einen solchen Interviewpartner für sein Medium zu gewinnen. Man kann also durchaus von einer abgewägten Win-Win-Situation sprechen. Entsprechend sind die Gespräche mit Monica Lierhaus bzw. mehr mit ihrem Lebensgefährten Rolf Hellgardt zur Korrektur ihrer öffentlichen Wahrnehmung nach ihrem offenen Heiratsantrag während der Verleihung der Goldenen Kamera 2011 zu betrachten, wie auch das mit Karl-Theodor zu Guttenberg.

Herausragend ist das Interview mit Renate Lasker-Harpprecht „Auschwitz erlaubt keine Rührung“ oder „Meine Seele hat Narben“ mit Joachim Gauck, der nach eigenem Wortlaut sympathisch mehr als „Gauck“ denn als Bundespräsident Rede und Antwort stand. Ebenfalls berührend die Erkenntnis „Ich bin in Schuld verstrickt“ von Helmut und Loki Schmidt, die zum ersten Mal von ihren persönlichen Eindrücke zum Deutschen Herbst erzählten, wie das letzte Telefon-Interview mit Petra Kelly.

Aus der Reihe fällt das Interview zum Thema Ausländer und Integration mit dem einzigen Nicht-Prominenten Halil Andic, einem türkischen Schuhputzer, der 2008 am Hamburger Flughafen Reisenden die Schuhe zum Glänzen brachte. Obwohl er nach sechs Jahren in Deutschland besser die Sprache sprechen könnte, kennt er Nietzsche und zeigt nicht nur damit, dass er alles andere als faul und dumm ist.

20 interessante, unterhaltsame und mittlerweile auch historisch anmutende Interviews zeigen einen Querschnitt aus 30 Jahren journalistischer Arbeit mit kluger Raffinesse und Charme  –  und mit Höhen und Tiefschlägen von Prominenten und anderen Menschen.

Auch wenn die Redakteurin ebenfalls von Aufstieg und Niederlagen erzählen könnte, scheint sie wie das Literaturportal nicht „en vogue“ zu sein; denn für ein Gespräch zu seinem Buch und seiner Arbeit steht Herr di Lorenzo „aus Zeitgründen“ leider nicht zur Verfügung. 😉

Sabine Hoß

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