Die verschwindende Hälfte

Brit Bennett

Übersetzt von Robin Detje und Isabel Bogdan

Rowohlt, 15. September 2020

416 Seiten, € 22,00

 

 

 

 

Nach ihrem erfolgreichen Debütroman „Die Mütter“ (ebenfalls im Rowohlt erschienen), der auf der New York Times Bestsellerliste stand und auch bei uns 2019 hervorragende Rezensionen erhalten hat, präsentiert Brit Bennett ein Jahr später ihren neuesten Roman mit dem Titel „Die verschwindende Hälfte“ (Originaltitel „The vanishing half“).

Es ist eine opulente Familiengeschichte über die Zwillingsschwestern Stella und Desiree, die in den 50er Jahren in dem kleinen Kaff Mallard im ländlichen Louisana geboren und aufgewachsen sind. So klein und bedeutungslos Mallard ist, so stolz sind die Bewohner auf seine Geschichte und die Traditionen, die sie mit diesem Ort verbinden, gleichwohl ihre Kinder von Generation zu Generation immer hellhäutiger werden. Als Stella und Desiree sieben Jahre alt sind, werden sie Zeuge, wie ihr Vater von Weißen grausam gefoltert und gelyncht wird und kurz danach im Krankenhaus verstirbt. Als die beiden Teenager sind und aus finanzielen Gründen nicht weiter zur Schule gehen können, stattdessen mit Putzen ihren Lebensunterhalt verdienen und damit ihre Mutter Adele Vignes unterstützen müssen, beschließen sie, gemeinsam diesen Ort zu verlassen und ihr Leben in New Orleans neu aufzustellen.

In New Orleans tingeln sie zunächst von einem Job zum anderen, bis Stella von heute auf morgen ohne eine Erklärung aus dem Leben von Desiree verschwindet. Sie hat als Sekretärin vorbehaltlosen Zugang in die Welt der Weißen bekommen und nimmt dies als Chance, ihre bisherigen Wurzeln zu kappen, was auch bedeutet, dass sie ihre Familie und Schwester verleugnet. Sie heiratet ihren Chef Blake Sanders, der sie vergöttert und taucht in ein wohlhabendes und luxuriöses Leben ein und bekommt mit ihm eine Tochter, Kennedy.  Ihre Zwillingsschwester Desiree verzweifelt fast über das Verschwinden ihrer Schwester und rettet sich mit einem Job als Expertin zur Erkennung von Fingerabdrücken beim FBI. Dort lernt sie einen dunkelhäutigen Staatsanwalt Sam Winston kennen und lieben, die beiden heiraten und werden Eltern von Jude, die so dunkelhäutig ist wie ihr Vater. Als Sam immer brutaler und gewalttätiger gegenüber seiner Frau wird, entschließt sie sich, mit ihrer kleinen Tochter Jude abzuhauen. Der einzige sichere Rückzugsort, der ihr einfällt ist Mallard und so kehrt sie mit ihrer kleinen Tochter ins Haus ihrer Mutter zurück. Sie verdient ihr Geld in dem alten Diner, den es schon viele Jahre gibt und in Desirees Leben kehrt langsam wieder Ruhe und Alltag ein. Mit Early Jones, einem Menschenjäger und ihrer zarter Jugendliebe, die verhindert wurde, weil er farbig ist, hat sie einen festen Halt an ihrer Seite, auch wenn dieser kommt und geht, wie seine Jobs es bestimmen. Die kleine Jude allerdings leidet und wird in der Schule ständig gehänselt, verspottet und bleibt Außenseiterin, die nur durch ihr sportliches Talent ein wenig Aufmerksamkeit und verhaltenen Respekt bekommt. Als Jude 1978 mit einem Leichtathletik-Stipendium nach Los Angeles auf die UCLA geht, ist sie erleichtert, aus Mallard und den ständigen Erniedrigungen entfliehen zu können. Dort lernt sie den jungen Reese auf einer Party kennen, in den sie sich verliebt.

Stella lebt mit ihrem früheren Chef und jetzigen Ehemann Blake Sanders und der kleinen Tochter Kennedy mit allem Luxus in einer wohlhabenden Siedlung, als bekannt wird, dass eine farbige Familie dort einziehen wird. Trotz aller Gegenwehr der weißen Bewohner werden die farbigen neuen Bewohner direkte Nachbarn von Stella und ihrer Familie. Hier wird Stella zum ersten Mal mit der Tatsache konfrontiert, dass auch sie, wenn auch hellhäutig, farbige Wurzeln hat. Sie hat für sich vor Jahren entschieden, dass sie weder ihrem Mann, noch ihrer Tochter Kennedy jemals etwas über ihre Vergangenheit, ihre Familie und Wurzeln erzählen wird.                                                                                                    Im Laufe der Jahre werden sich die Töchter von Stella und Desiree,  Kennedy und Jude, über den Weg laufen und sich zögernd erkennen…

Hinter diesem Rahmen erzählt die junge Brit Bennett eine unglaublich fesselnde, melancholische und dennoch lebensbejahende Familiengeschichte, in der sie mit Leichtigkeit mehrere Generationen und über 40 Jahre umspannt. Dieser Roman erfordert ein aufmerksames lesen, nicht nur weil die Autorin meisterhaft mit häufigen Zeitensprüngen spielt, die sich nicht nur in den sechs Teilen des Romans ergeben, sondern auch innerhalb der einzelnen Kapitel. Mit den sich oft abwechselnden Handlungszeiten und unterschiedlichen Orten verwebt sie die verschiedenen Erzählstränge und hervorragend fein ausgearbeitete Figuren zu einer komplexen, fesselnden und großartig zusammenführenden Herkunftsgeschichte, die über Wurzeln, Identitätssuche auf verschiedenster Weise, Hautfarbe, Geschlecht – und über Rassismus auf ganz eigene Weise erzählt. Brit Bennett schreibt klar, ohne anzuklagen, aber mit einer ausstrahlenden eigenen Stimme. Sie braucht keine Klischees für Ihre Bilder, dafür überzeugt sie mit einer unverkrampften  Sprache ohne Überheblichkeit, dafür mit nachdenklich machender Reflektion. Die Autorin balanciert subtil mit den Nuancen von dunkler bis weißer Hautfarbe und spiegelt damit beschämend die Bedeutung (und leider nicht Bedeutungslosigkeit) der dadurch bis heute entstehenden Unterschiede und dem daraus resultierenden Rassismus.

„Die verschwindende Hälfte“ der jungen amerikanischen und farbigen Schriftstellerin ergänzt als kluge, moderne literarische Perle die „Black Lives Matter“-Bewegung.

Das Cover ist ein „Eyecatcher“ das, wie bei der Geschichte selber, bei konzentriertem Hinschauen zu einer perfekten Symbiose führt.

Zum Schluß noch einmal die Empfehlung, unbedingt ihren Debütromans“Die Mütter“ zu lesen.

Sabine Wagner

 

 

 

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