Felix und die Quelle des Lebens

Eric-Emmanuel Schmitt

Aus dem Französischen von Michael v. Killisch-Horn

C. Bertelsmann, März 2020

224 Seiten, € 20,00

 

 

 

Paris, Stadtteil Belleville. Hier lebt der zwölfjährige Felix mit seiner Mutter Fatou, die aus dem Senegal stammt. Fatou betreibt ein kleines Café mit Namen „Büro“, das nicht nur Lebensmittelpunkt der Beiden ist, sondern auch von vielen Bewohnern des Stadtteils.

Stammgäste sind Madame Simone, die eigentlich als Mann geboren wurde, aber wegen Geldmangels nie in der Lage war, ihre Natur durch chirurgische Eingriffe zu korrigieren. Leider blieb sie männlich oder weiblich aussehend hässlich und bekam trotz Diplom zur Buchhalterin weder einen Job noch einen Liebhaber und muss, verstoßen von der Gesellschaft, auf den Strich gehen, um ihr Geld zu verdienen.

Ein weiterer Stammgast ist Sophronides, der Philosoph, der Stundenlang auf seinem Barhocker sitzend, „das Kommen und Gehen der Gäste, die Veränderungen des Viertels und das politische, wirtschaftliche und soziale Tagesgeschehen“  kritisch und bissig kommentiert.

Mademoiselle Tran ist die stille, ständig lächelnde, die mit heiseren „rrrho“ besondere Bemerkungen untermalt.

Der Vierte im Bunde der Stammgäste ist Robert Larousse, der als hochsensibler und in sich gekehrter Staubsaugerreparateur an einem Tisch in der hintersten Ecke des Cafés sich zum Ziel gemacht hat, „in Ruhe allein“ ein komplettes Wörterbuch auswendig zu lernen.

Diese Vier sonderbaren Gäste sind auch die engsten Freunde von Fatou und kümmern sich mit ihr rührend um den heranwachsenden Felix, der seinen Vater nie kennengelernt hat. Von seiner Mutter weiß er nur, dass Félicien Saint-Esprit  Kapitän eines Handelsschiffs war und eine Woche mit seiner Mutter verbracht hat. Sie gab ihm den Namen der „Heilige Geist“, nicht nur weil er der schönste Mann war, dem man sich vorstellen kann. Das Felix ihn bisher nie kennen gelernt hat, hat ihn nie gestört, denn seine Mutter erzieht ihn mit tiefer Liebe, einer unbändigen Lebenslust, Fantasie und Heiterkeit aber auch mit der nötigen Strenge.

Als der Besitzer des Kramerladens, der direkt neben dem „Büro“  ist, sehr krank wird und weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat, bietet er Fatou, und nur ihr, seinen Laden an. Zunächst zögert und windet sich Fatou, nimmt das Angebot dann aber an, da sie damit die Möglichkeit bekommt, ihr Café zu verkaufen und unkompliziert mit den neuen Räumlichkeiten und wenig Aufwand ihr Café zu vergrößern. Als sie schon mit Vorfreude die ersten Planungen macht, erscheint ein Notar in ihrem Café, der ihr die Hiobsbotschaft überbringt, dass sie ihr Café nicht verkaufen kann, da der vorherige Besitzer eine offene Steuerschuld gegenüber dem Staat hat und das Geld aus dem Verkauf ihres Cafés sofort dem Staat zufällt. Damit hat Fatou nicht gerechnet und zerstört ihre ganzen Pläne. Doch nicht nur ihre Pläne werden zerstört, Fatou fällt dadurch in eine Lebenskrise und Depression. Sie verändert sich zusehends, zieht sich in ihr Inneres zurück und ist für keinen mehr ansprechbar. Statt dessen zählt sie immer wieder alles Mögliche und putzt unentwegt die ganze Café-Einrichtung klinisch rein, vieles auch mehrfach hintereinander.

Die Freunde sind verzweifelt über diese Entwicklung und da sie Fatou nicht helfen können, bitten sie Felix, Fatous Bruder im Senegal anzuschreiben, ob er nicht seiner Schwester helfen könne.

Als kurze Zeit später Onkel Bamba im Café erscheint, versucht er mit einem sehr kostspieligen „Profi-Marabout“ und seinen betrügerischen Schein-Heilungen Fatou zu helfen, was nicht gelingt. Als alle Ersparnisse für den Scharlatan ausgegeben sind, verschwindet auch Onkel Bamba. Dafür erscheint, wie aus dem Nichts, Felix Vater, der „Heilige Geist“. Felix steht einem tatsächlich wunderschönen, gut gebauten  Mann gegenüber, der überall und jedem auffällt. Mit dieser einschneidenden Familienveränderung steckt der Junge in dem schlimmen Dilemma, dass seine Mutter zu einer Scheintoten mutiert ist und er nach zwölf Jahren zum ersten Mal seinem Vater gegenüber steht, der ihn offenbar trotzdem sehr liebt, wie auch seine Mutter. Als auch der Heilige Geist Fatou nicht in die Realität wiederbeleben kann, weiß er, wie man ihr helfen kann: Fatou muss zurück zu ihren Wurzeln; sie muss nach Afrika, denn nur Afrika wird sie heilen können.

Diese Reise zu ihrer Heimat, ihren Wurzeln und dem Besuch bei dem Heiler Papa Loum zerreißen Fatou und sie scheint manchmal dem Tod näher als dem Leben. Doch hier nähert sie sich ihrer eigenen Biographie und den Gründen, warum sie heute in Europa lebt. Für Felix ist es bewegend festzustellen, hier unaufgeregt ein Schwarzer unter Schwarzen zu sein, während er in Paris durch seine Hautfarbe Aufmerksamkeit erregt. Während der Heilung seiner Mutter lernt Felix, dass seine Mutter auch eine unabhängige und starke Frau mit einer eigenen Geschichte ist, in deren Leben nicht nur er Zentrum ist.

Nach seinen Welterfolgen „Oskar und die Dame in Rosa“ und „Monsieur Ibarahim und die Blumen des Koran“  ist Eric-Emmanuel Schmitt auch mit seinem neuen Roman eine leise, feine, tiefgründige  Geschichte gelungen, die philosophisch und spirituell beschreibt, wie wichtig das Annehmen der Vergangenheit für die eigene Identität in der Gegenwart und Zukunft ist. Verleugnet man Heimat, Wurzeln und traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit, wird sich das irgendwann in der Gegenwart und Zukunft rächen. Darüber hinaus erzählt dieses kleine Buch auf tragisch-komische Weise und mit viel Warmherzigkeit die Liebe zwischen Eltern zu ihren Kindern und dem nicht einfachen Erwachsenwerden.

Ein stimmungsvolles Cover mit einem ansprechenden Einband runden das Buch harmonisch ab.

Für ältere Leser ist die große Leseschrift erfreulich. 😉

Sabine Wagner

 

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