Ich muss raus aus dieser Kirche – Weil ich Mensch bleiben will Ein Generalvikar spricht Klartext

Andreas Sturm

Herder, 15.06.2022

192 Seiten, € 18,00

 

 

 

 

2021 traten so viele Menschen aus der katholischen Kirche aus wie noch nie zuvor und in den ersten Monaten dieses Jahrs übertrafen die Austrittszahlen noch einmal die Höchststände des Vorjahres. In einem Gespräch, in dem ich mein Entsetzen über diese Entwicklung äußerte, hörte ich jenen Satz zum ersten Mal: „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.“ Ich war geschockt. (…) War ich auch eine Ratte?                               (Auszug aus dem Buch, Seite 170)

Auch wenn das Buch, das aktuell auf Platz vier der Spiegel-Bestsellerliste steht, unter Zeitdruck entstanden ist, was man einiger aufgewühlter Passagen entnehmen kann, ist es dennoch keine überhastete Abrechnung mit der katholischen Kirche, die der ehemalige Generalvikar aus Speyer, Andreas Sturm, in diesem Buch darlegt, sondern eine sehr persönliche und dennoch sachliche Erzählung wie es dazu kam, dass er seinen Rücktritt am 13. Mai 2022 öffentlich machte. Bereits 2021 wehrte er sich gegen das vom Vatikan erhobene Verbot, queere Paare zu segnen, indem er bekannt gab, dies nach wie vor weiterhin zu tun.

Sturm erzählt selbstkritisch von seinem Glauben und kirchlichen Werdegang, vom ersten Engagement bei der KJG bis hin zum Generalvikar. Andreas Sturm beschreibt seine zunächst große Begeisterung für die Kirche, aber auch von ersten Demütigungen, die er schon früh von ihr erfahren hat und von der Wahrnehmung, dass kirchlicher Glaube in einer Blase gelebt wird.

Mit den sogenannten „heißen Eisen“ in der katholischen Kirche, wie der Frauenfrage und dem wahren Umgang mit queeren Menschen, sowie den der katholischen Kirche angeschlossenen Arbeitgebern, setzt er sich kritisch auseinander. Er weist in diesem Zusammenhang auch auf die so mutige wie wichtige Aktion „OutInChurch“ von Januar diesen Jahres hin und hinterfragt ebenso den Sinn des Zölibats.                                           Mit Wut und Ekel setzt sich Andreas Sturm mit dem Thema des Missbrauchs durch die katholische Kirche auseinander und beleuchtet kritisch die „Aufklärung“, die ihn letztlich angewidert resignieren lässt.

Aber auch andere Themen, wie z.B. das männliche Macht-System der Kirche, die Co-Abhängigkeit und Loyalitätsverpflichtung, der liturgische Klerikalismus, Schuld und Sühne, das katholische Arbeitsrecht, die immer wieder in der römisch-katholischen Kirche debattiert werden und seinen Glaubens- und Lebensweg begleitet haben, hinterfragt er sehr kritisch mit entmutigenden Ergebnis.

Diese sehr persönliche Innensicht eines ehemals hochrangigen Theologen, der an vielen Stellen zugibt, Fehler in seinem Verhalten und Tun gemacht zu haben, zeigt, wie nötig die katholische Kirche Reformen auf vielen Gebieten hat. Für alle, die noch dieser Kirche zugewandt sind oder hier ihren Arbeitsplatz haben, meiner Meinung nach ein unerlässliches Buch, das zur Diskussion anregt und nachdenklich macht. Doch diskutieren wird nur das „Bodenpersonal“. Von oben werden meist alle grundlegenden Reformvorschläge auf den Synodalen Weg verschleppt, ausgesessen oder abgelehnt. Auch das war ein Grund für den Rücktritt des Generalvikars aus Speyer.

Andreas Sturm ist nach einem schwierigen und schmerzhaften Prozess aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten und hat sich der altkatholischen Kirche zugewandt, hier sieht er zukünftig als Priester seine Berufung. Möge er in dieser Kirche neue Hoffnung für positive Entwicklungen, Zuversicht und Erfüllung in seinem Glauben finden.                     Für alle anderen, die der katholischen Kirche „noch“ zugewandt sind oder bleiben müssen, weil es z.B. ihr Arbeitgeber ist, bleibt zu hoffen, dass die römisch-katholische Kirche durch mehr solch mutiger öffentlicher Austritte und Bekenntnisse von weiteren Priester, hochrangingen Theologen etc., im Sinne von Andreas Sturm, ganz unten ankommt und sich das dann auch (endlich) eingesteht.                                                                              Vielleicht kann dann mit viel Reformen, weit weg von abstrusen Werten, eigenen kirchlichen Rechten, dem gelebten Glauben im hier und jetzt und außerhalb einer kruden Blase, dafür mit „Gottes liebender Zuwendung“, eine moderne, neue Kirche entstehen. Vielleicht.

Sabine Wagner

Nachtrag vom 24.07.2022

Wie sehr Andreas Sturm mit seiner Einschätzung Recht behält, dass die unabdingbaren Reformvorschläge über den Synodalen Weg weitestgehend auf der Strecke bleiben werden, wurde jetzt vom Vatikan bewiesen. Folgender Artikel hierzu von Christopher Driessen aus der Aachener Zeitung.de vom 22.07.2022.

 

 

 

 

 

 

 

 

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