Blautöne

Anne Cathrine Bomann

Aus dem Dänischen von Franziska Hüther

hanserblau, 20.02.2023

304 Seiten, € 22,00

 

 

 

Die 1983 geborene, in Kopenhagen lebende und dort praktizierende Psychologin Anne Cathrine Bomann ist mit ihrem 2019 bei hanserblau erschienen Debütroman „Agathe“, in dem es um die Seelenprobleme eines Psychiaters geht, international bekannt geworden.

In ihrem neuen Roman, der Anteile eines psychologischen Krimis in sich trägt, setzt sie sich mit dem Gefühl der Trauer auseinander und welche Auswirkungen das Einsetzen eines Gegenmedikaments auf unser Verhalten und Gefühlsleben haben könnte.

Als die Pharmaforscherin Elisabeth im April 2011 ihren Sohn mit fünf Jahren an einer Krankheit verliert, bleibt für sie die Welt stehen. Alleine, ohne Partner*in verliert sie sich in ihrer Trauer und wird selbst für ihre engsten Freunde und Freundinnen immer unerreichbarer. Sie stürzt sich mit einem Forscherteam und dem Danish Pharma Konzern  in die Entwicklung eines Medikaments, das die Trauer heilen oder zumindest lindern soll, da die herkömmlichen Antidepressiva bei starken Trauergefühlen nicht die erhoffte Wirkung erzielen. Nach über zehn Jahren stehen die Forschungen 2024 kurz vor ihrem Abschluss und Callocain könnte bald auf dem Markt verkauft werden.

September 2024, Universität Aarhus. Die etwas chaotische und exzentrische Anna hat gerade vom Prüfungsausschuss eine Ablehnung zum verpassten Neuro-Seminars erhalten. Da sie sich auch zu ihrer Masterarbeit als Psychologin zu spät angemeldet hat und sie von Professoren ein Nein zur Betreuung bekommt, erhält sie auch von ihrem Lieblings-Professor Thorsten eine Abfuhr. Da aber Thorsten das Potential von Anna kennt und der zerstreuten, unzuverlässigen jungen Frau platonisch zugetan ist, eröffnet er ihr eine  Chance der Betreuung, wenn sie ihre Masterarbeit gemeinsam mit der Mitstudentin Shadi schreibt. Doch Anna kennt Shadi aus Vorlesungen für Statistik, hält sie für einen sonderbaren, in sich gekehrten Nerd und glaubt nicht, dass eine Zusammenarbeit funktionieren wird, weil gegenseitige Sympathie anders aussieht. Da die Arbeit mit Shadi aber ihre einzige Möglichkeit ist, muss sie über ihren Schatten springen. Shadi ist ebenfalls nicht begeistert von Annas Anfrage, außerdem hat ihr Freund sie gerade verlassen, weil er sich von ihr eingeengt und gelangweilt fühlt. Shadi kämpft mit diversen Zwängen, kommt mit Abwechslung und Spontanität nicht gut zurecht und ist gerne alleine. Mit einiger Mühe und gewisser Penetranz gelingt es Anna aber Shadi zur gemeinsamen Masterarbeit zu überreden. Die nächsten fünfeinhalb Monate werden sie sich mit den Forschungsarbeiten von Danish Pharma über das neue Medikament gegen Trauer und dessen Auswirkungen auseinandersetzen und überprüfen: „Die Trauer als Grundbedingung des Menschseins und die ethischen Folgen einer Psychologisierung derselben.“

In dieser Zeit stellen die beiden jungen Frauen und ihr betreuender wie den Forschungarbeiten gegenüber kritisch eingestellter Professor, Ungereimtheiten in verschiedenen Ergebnissen fest, insbesondere beim Empathiescore, der sich offenbar nach Einnahme des Medikaments bei einigen Probanden deutlich verändert. Doch weder Anna, Shadie noch Thorsten haben handfeste Beweise, um die Widersprüchlichkeiten aufzudecken und zu untermauern. Aber schon bald sickern ihre Zweifel an diesem, so heilbringenden, teuren neuen Medikament an das Forschungsteam von Danish Pharma durch, die Thorsten in seiner Position als Uni-Professor als Verräter betrachten. Nicht zuletzt auch, weil die Uni finanziell von dem Pharma-Unternehmen großzügig unterstützt wird. Als Thorsten eine Möglichkeit findet, vielleicht seine Ahnungen mit Beweisen zu belegen, gerät er mit Shadi und Anne in einen gefährlichen Strudel von Macht, Gier und Geld, nur mit dem einen Ziel, das Medikament Callocain auf den Markt zu bringen, egal mit welchen schwerwiegenden Folgen für die Trauernden.

Anne Cathrine Bomann ist mit den vier facettenreichen Protagonisten ein fesselnder Roman gelungen, der sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Bedeutung das Gefühl der Trauer für unser Seelenleben hat, wie wichtig es ist, es auszuleben und wie die Grenze zu ziehen ist, an der sich der Trauerprozess in eine Krankheit verschiebt. Es dauert allerdings ein wenig, bis die Geschichte Spannung aufbaut und an Dynamik zunimmt. Doch ab einem bestimmten Punkt entwickelt die Handlung mit den interessanten, gegensätzlichen Figuren einen fesselnden Sog. Die kritische Betrachtung der wissenschaftlichen Medikamentenentwicklung mit den sich daraus ergebenden ethischen und moralischen Fragen, sowie die Abhängigkeit durch die finanzielle Verkupplung der Pharmaindustrie mit Universitäten, durchleuchtet die Schriftstellerin in einer auch für medizinische Laien verständlichen und leicht zu lesenden Sprache (Übersetzung Franziska Hüther). Im Jahre 2011 beginnt mit Elisabeth und relativ kurzen Kapiteln die Handlung, in der abwechselnd die einzelnen Figuren in den Vordergrund gestellt werden. Dabei rückt Elisabeth immer mehr an das Jahr 2024 heran und damit der Gegenwartsperspektive von Thorsten, Shadi und Anne. Durch diese Verschachtelung nähert man sich immer mehr den einzelnen Figuren, gleichzeitig baut die Autorin dadurch eine tiefgründige, komplexe Geschichte auf, die mit überraschenden Wendungen bis zum Ende hin sehr spannend ist.

Auch wenn ich es für unglaubwürdig und unrealistisch halte, so chaotisch Anna auch sein mag, dass sie (selbst bei einem Besuch bei Danish Pharma) nicht erkennt, wer die Forscherin hinter Callocain ist, ist das der einzige Punkt, den ich als kritische Leserin als konstruiert empfunden habe und darüber gestolpert bin. 

Ein Roman, der mit seinem Thema und Hintergründen zum Nachdenken und zur Diskussion anregt. Denn dass Psychopharmaka, wie beispielsweise Antidepressiva, durchaus positive wie negative Ein- und Auswirkungen auf die Persönlichkeit, wie auch auf den physischen Zustand eines Körpers haben, ist bekannt. Wie gravierend aber ein hypothetisches Medikament, das die psychische Erkrankung durch eine zu lang anhaltende Trauer lindern oder verschwinden lassen soll, den Menschen in einen gefühl- und empathielosen Zombie verändert, zeigt diese Geschichte eindrucksvoll.

Im Nachwort schreibt die Autorin, dass während sie diesen Roman schrieb, „tatsächlich eine Trauerdiagnose in Dänemark ins Gespräch gebracht wurde, wobei noch nicht entschieden wurde, ob sie verlängerte oder anhaltende Trauerstörung heißen wird.“

Weiterhin liest man in der Anmerkung der Übersetzerin, „dass im Zuge der ICD-11, die am 01. Januar 2022 in Kraft trat, auch in Deutschland und den übrigen WHO-Mitgliedsstaaten eine entsprechende Diagnose eingeführt wurde. Nachdem im deutschsprachigen Raum ähnlich wie in Dänemark lange Uneinigkeit bezüglich des zu verwendenden Begriffs herrschte, hat sich inzwischen die Bezeichnung „anhaltende Trauerstörung“ etabliert. Die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte herausgegebene deutsche Fassung der ICD-11 ist derzeit in Arbeit.“

Das Cover ist zwar Blau, aber mit seinem kleinen Blumenstrauß zu nichtssagend und passt für mich nicht zum beeindruckenden Inhalt.

Sabine Wagner

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