Wir hätten uns alles gesagt

Judith Hermann

S. Fischer Verlag, 15.03.2023

192 Seiten, € 23,00

 

 

 

 

Die 1970 in Berlin geborene und dort lebende Schriftstellerin Judith Hermann legt mit „Wir hätten uns alles gesagt“ eine autobiografische Erzählung vor, in der sie Fiktion und Realität der Ich-Erzählerin Judith verschwimmen lässt. Bei der Frankfurter Poetikvorlesung 2022 las Judith Hermann zum ersten Mal der Öffentlichkeit den vorliegenden Text „vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ vor, jetzt ist es als siebtes Buch der Schriftstellerin erschienen.

Bei einem Streifzug durch die Berliner Nacht mit ihrem befreundeten Schriftsteller G. trifft die aus der Ich-Perspektive erzählende Judith auf ihren ehemaligen, langjährigen Psychoanalytiker Dr. Dreehüs, bei dem sie vor zwei Jahren ihre Psychoanalyse abschloss. Noch unsicher, ob es gut oder weniger sinnvoll ist, mit ihm an der Bar ein oder zwei Gläser zu trinken, sind sie schon genau an diesem Platz in einem Dialog. Aus diesem Gespräch entwickeln sich viele Erinnerungen aus unterschiedlichen Zeitebenen. Zwiegespaltene Erinnerungen an Judiths ehemals enge Freundin Ada, schöne Erinnerungen an Sommerurlaube in ihrem Haus am Meer, an ihren guten Freund Marco, der als Künstler nie irgendwo richtig ankam, genauso wenig wie in seinem Leben und schon früh an Multiple Sklerose verstarb.
Immer wieder hinterfragt Judith in ihren Erinnerungen Beziehungen, sei es eine Paar-Beziehungen, freundschlaftliche oder in der Auseinandersetzung von komplexen Familiengefüge, bei denen sie Spannungsfelder und deren Auslöser auslotet. Es ist keine glückliche, schöne Kindheit, von der sie erzählt, in der ein Puppenhaus und das Buch „Das gelbe Haus“ eine große Rolle bis in die Gegenwart spielen.

Geschichten und Erzählungen fließen ineinander über, Judith Hermann erzählt Episoden aus ihrem Leben zeitlich nicht stringent und fügt sie dennoch meisterhaft zusammen. Offen bleibt, was tatsächlich autobiographisch ist und was sie vielleicht dazu verdichtet hat und auch diese Tatsache offenbart die Schriftstellerin mit diesem Text überzeugend und zeigt damit eindrucksvoll, wie sehr sich Wahrheit und Fantasien beim Schreiben, auch (und vielleicht gerade) bei eigenen Lebenserinnerungen, vermischen. Mit ihrer ganz eigenen facettenreichen, poetischen Stimme erzählt sie, manchmal ganz glasklar und nüchtern, an anderer Stelle leise und fein.

Mit diesen Rückblicken und Erinnerungen reflektiert Judith Hermann Stationen ihres bisheriges Leben, in dem sie vielem entkommen konnte, aber in Teilen noch immer auf der Suche und unterwegs ist. So verschmilzt sie als ehemalige Patientin in die Rolle der Analytikerin vom eigenen und von fremden Innenleben und bleibt dabei in einer undurchschaubaren Verspieltheit offen.

Ein tiefsinniges, fesselndes Buch in einer außergewöhnlichen, beeindruckenden Sprache über Verschweigen, Schweigen, Erfundenes, Verheimlichtes, über Selbstreflexion und Analyse des Lebens und wie dies alles das Schreiben beeinflusst. Großartig.

Das Cover passt stimmig zur Erzählung.

Sabine Wagner

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