Weite Sicht

Thorsten Pilz

Lübbe Belletristik, 31.03.2023

286 Seiten, € 22,00

 

 

 

 

Obwohl der ehemalige erfolgreiche Hamburger Reeder Friedrich Holtgreve auf einem guten Weg der Gesundung war, stirbt er nach einem erneuten Herzinfarkt im Krankenhaus. Seine 71-jährige Frau Charlotte, mit der er über fünfzig Jahre verheiratet war, blieb bis zum Schluss an seiner Seite, auch wenn sie in ihrer Ehe schon lange nur noch nebeneinanderher gelebt haben. Nun muss Charlotte ihren erwachsenen Kindern Franziska und Matthias, sowie ihren Geschwistern Johannes und Gesine den doch überraschenden Tod mitteilen. Zuhause in ihrem schmucken, großen Haus an der Elbe in Hamburg, denkt Charlotte an frühere Zeiten. Sie findet in einer Kiste Erinnerungsstücke, unter anderem das Buch „Kamingeschichten“ von Tania Blixen, das sie einmal von ihrer Jugendfreundin Bente geschenkt bekam. Es kommen Erinnerungen an Bente hoch, die Dänin, die Anfang der 70er Jahre kurz vor dem Abitur eine Zeit lang in Hamburg lebte und die Charlotte mit ihrem Freigeist und Humor sehr beeindruckte. Nach Bentes Rückkehr nach Dänemark besucht Charlotte sie in Klampenborg. Ein Besuch, den sie niemals vergessen hat. Nachdem sie sich Jahrzehnte nicht mehr gesehen haben, taucht Bente überraschend zur Beerdigung von Friedrich auf, um nach einem kurzen, nachhaltig aufwühlenden Wiedersehen mit Charlotte auch wieder zu verschwinden.

Kurz nach Friedrichs Beerdigung steht Gesine, Charlottes jüngere Schwester, vor ihrer Tür und bittet darum, vorübergehend bei ihr zu wohnen. Charlotte nimmt sie bei sich auf, denn sie ist froh, etwas für sie tun zu können, da Gesine ansonsten sehr distanziert gegenüber Charlotte ist. Sie hat sich nie eine Berührung oder gar Umarmung von ihr gestattet, was ihre ältere Schwester nie verstanden hat und wofür auch ihr Bruder Johannes keine Erklärung gab.

Am Tage der Testamentseröffnung im Kreise der Familie wird Charlotte mit Tatsachen konfrontiert, die ihr bisheriges Leben auf den Kopf und in Frage stellen. Charlotte reist ohne Ankündigung nach Berlin, wo sie hofft, auf Bente zu treffen. Da Bente aber gerade in Dänemark ist, bekommt Charlotte die Wohnung großzügig von Bentes Neffe Mogens überlassen, damit sie in Ruhe die aufgewühlten Gedanken sortieren und zu Ruhe kommen kann. „Lass Dir Zeit“ war immer das Mantra ihrer Mutter und gerade jetzt versteht sie die Bedeutung dieser Worte. Während der Tage in Berlin wird Charlotte klar, dass sie nach Klampenborg will, um Bente wiederzusehen. Doch zuvor muss sie noch einmal nach Hamburg, um mit ihren Kindern die Angelegenheiten aus dem Testament zu besprechen und sich der Auseinandersetzung mit ihrer Schwester Gesine zu stellen.
In Klampenborg schaut Charlotte mit Bente zurück in die Vergangenheit, aber auch in die Zukunft und wagt mutig einen Neuanfang.

242 Tage lang, die sich nicht kontinuierlich aneinanderreihen, begleitet man die vier so unterschiedlichen Frauen: Die vernünftige, pragmatische Charlotte, die künstlerische, exzentrische Gesine, die brave Sabine, die ihre Träume dem Hausfrauendasein unterworfen hat, sowie die Dänin Bente, die als Fotografin und Journalistin jahrzehntelang durch die Welt gereist ist. Sie sind zwischen sechszig und knapp über siebzig und haben alle mit Schicksalsschlägen und Enttäuschungen in ihrem Leben umgehen müssen. Nun könnte man meinen, dass eine Geschichte in dieser Altersspanne, in der es natürlich auch um Krankheit und Tod geht, schwer und melancholisch ist, was schnell auch ins Sentimentale abrutschen kann. Doch Thorsten Pilz umschifft großartig diese Gefahr. In einer unterhaltsamen, leicht zu lesenden, aber alles andere als oberflächlichen Sprache verpackt, lässt er den Leser/die Leserin die Entwicklung der unterschiedlichen Lebensgeschichten der drei Geschwister und Bente von der Vergangenheit bis zur Gegenwart erleben. Die Beziehung zwischen Charlotte und ihrer Schwester Gesine sowie zu ihrer ehemaligen Jugendfreundin Bente stehen dabei im Mittelpunkt und die „Kamingeschichten“ von Tania Blixen ziehen sich als roter Faden durch die Beziehung von Charlotte und Bente. Mit einer empathischen Tiefgründigkeit entfaltet der Autor die einzelnen Figuren im Geschwister- und Beziehungsgeflecht, die einem im Laufe der Geschichte immer mehr ans Herz wachsen, genauso wie die der Nebenfiguren, wie beispielsweise Troels, der Bruder von Bente oder Matthias, der Sohn von Charlotte.

Zwischen Charlotte und Gesine hat es immer einen sonderbaren Abstand gegeben, der sich nach Friedrichs Tod und Testament durch eine dramatische Offenbarung erklärt und Charlotte muss sich entscheiden, ob und wie sie diese Beziehung erhalten will. Obwohl Charlotte bisher vernünftige, pragmatische und kopfgesteuerte Entscheidungen getroffen hat, steht sie plötzlich vor einem Chaos, das sie erst einmal ordnen muss, bevor sie sich zum ersten Mal erlaubt, in sich hinein- und auf ihr Herz zu hören. Statt mit Wut und Trauer zurückzublicken, macht sie einen mutigen Schritt nach vorne und beginnt ihr Leben mit 71 Jahren neu aufzustellen. Eine solche Neuaufstellung unterliegt der Gefahr, kitschig oder konstruiert herüberzukommen, doch dem entgeht der Autor mit der klugen, starken Charlotte, die sich erst nach Friedrichs Tod ehrlich mit ihren Selbstzweifel und Lebensängsten auseinandersetzen kann – und will. Trotz vieler Abschiede, die Charlotte, aber auch alle Figuren in diesem Buch erlebt haben, zeigt die Geschichte ohne Pathos, dass sich dahinter auch immer ein Neuanfang verbirgt und es nie zu spät ist, zu sich und seiner Liebe zu stehen. Man muss nur den Mut und die Offenheit haben, auf sein Herz und nicht nur immer auf den Verstand zu hören.
Am Ende der Geschichte war mir die, für alle rundum glücklich machende Wohnsituation dann doch ein wenig zu harmonisch, aber das mag freilich eine persönlich „kopfgesteuerte Empfindung“ sein. 😉

Thorsten Pilz ist mit seinem Debütroman eine fesselnde, tiefsinnige wie unterhaltsame Geschichte über vier Frauen zwischen sechzig und siebzig Jahren gelungen, die trotz dem begleitenden Tod und Krankheiten alles andere als dunkel und schwermütig ist, sondern Mut macht, auch im (hohen) Alter den offenen Blick über den Tellerrand auf neue Lebensperspektiven zu werfen.
Ein Schmöker, den ich nur sehr ungerne aus der Hand gelegt habe.

Das Cover mit den verwischenden und ineinander übergehenden Blautönen des Meeres gefällt mir gut, die Badenixe schaut zwar passend nach vorne, sie ist mir aber für diese Geschichte nicht originell genug und daher Geschmacksache.

Sabine Wagner

Ein Interview mit Thorsten Pilz zu diesem Roman liest man hier.

 

 

 

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