Glittersee

Charlotte Gneuß

S. Fischer Verlag, 30.08.2023

240 Seiten, € 22,00

 

 

 

 

Glittersee, ein kleiner Vorort von Dresden im Jahre 1976. Die 16 Jahre alte Karin kümmert sich rührend um ihre kleine Schwester, bringt sie in die Krippe, holt sie dort ab und übernimmt auch zuhause alle Mutterpflichten. Die Mutter von Karin und der Kleinen glänzt durch Abwesenheit und offen gezeigtem Desinteresse für ihre beiden Töchter. Ständig ist sie in Bewegung, neben ihrer Arbeitsstelle ist sie mit irgendwelchen anderen wichtigeren Tätigkeiten beschäftigt, als sich zugewandt um das Wohl ihrer Kinder zu kümmern, auch mit ihrem Ehemann führt sie nur noch eine distanzierte Beziehung. Der Vater geht zur Arbeit, hilft gelegentlich im Haushalt oder liegt unter dem ständig reparaturbedürftigen Skoda. Mittelpunkt der Familie ist die Großmutter väterlicherseits. Mit ihrer herrischen Art dominiert sie das Familienleben, das sich nach ihren Regeln zu richten hat. Während ihre Schwiegertochter immer mehr die Flucht nach außen sucht, bleibt ihr Sohn in der Familie und flüchtet dafür in den Alkohol.
Karin ist schwer verliebt in ihren Freund Paul, der in einem Schacht arbeitet, aber lieber mit seinem Zeichen- und Maltalent Künstler werden will. Doch in der DDR sieht er für sich und diesen Berufsweg keine realistische Chance. Als Paul ihr sein große Geheimnis anvertraut, dass er mit seinem Fahrrad und dem Vorwand, Kletterzeug kaufen zu wollen, in den Westen flüchten und sie mitnehmen will, weiß sie nach kurzer Überlegung, dass sie nicht mitgeht. Sie bringt es nicht über ihr Herz, ihre kleine Schwester alleine zu lassen, mit dem Wissen, dass weder die Mutter, der Vater noch die Großmutter sie mit Liebe erziehen werden.
Marie, Karins beste Freundin und Schulkameradin, ist neben Paul ihr einziger Halt in dieser von außen und innen fremdbestimmten Welt.
Als Paul von seinem Ausflug in den Westen nicht mehr nach Glittersee zurückkehrt, gerät Karin in das DDR-System der Spitzelei und Denunziation, das sie zuerst nicht als solches erkennt und als es zu spät ist, keinen Rückzug mehr sieht.

In einer schlichten, unaufgesetzten und trotzdem jugendlich frischen Sprache lässt Charlotte Gneuß ihre Protagonistin Karin aus der Ich-Perspektive erzählen und ich hatte schnell einen sympathischen Bezug zu ihr. Die Autorin beschreibt exemplarisch ein Familienleben in der ehemaligen DDR, in der Kinder nur eine Nebenrolle spielten und schon als junges Kleinkind in die Krippe abgeschoben wurden. Es geht aber auch um das DDR-System und die Bespitzelung und Ausfragerei mit perfiden Mitteln, wenn jemand „rüber gemacht hat“. Dabei ist die große Stärke dieses Romans, dass es hier nicht um Schuld oder Schuldzuweisung und Be- oder Verurteilung geht, sondern es werden Konstellationen und Entwicklungen in einem System beschrieben, in die man mit einer gewissen Naivität und Lebensunerfahrenheit hineinrutschen konnte, mit furchtbaren Konsequenzen für alle weiteren Beteiligten. Darüber hinaus ist es auch ein großartiger „Coming of Age“-Roman einer jungen Heranwachsenden in den siebziger Jahren in der DDR, in der es noch wenig Aufruhr und Zweifel an diesem System gab.

Kurz nach Erscheinen von „Glittersee“ gab es einen Aufruhr im Feuilleton, dass die junge Autorin, die 1992 in Ludwigsburg geboren wurde und somit das Leben und System der DDR nicht selber erlebt hat, nicht darüber schreiben sollte, auch weil sich viele Fehler in ihrem Roman dazu finden lasse. Bedeutet nichts anderes, als dass Schriftsteller*innen nur noch darüber schreiben dürfen, was sie selber erlebt haben = an den identitären Linien entlang, da sie sich ansonsten wider jeden Wissens kulturell etwas aneignen würden. Diese Debatte ist auch aus meiner Sicht so verwerflich wie haarsträubend, denn ansonsten wäre die Literatur mehr als ausgedünnt und überschaubar.
Auch wenn ich in dem Roman die eine oder andere Ungereimtheit und Widersprüchlichkeit festgestellt habe, die ich aber dem Lektorat definitiv zuschreibe und nicht der Schriftstellerin, bleibt es ein beeindruckendes junges Romandebüt, dass nicht nur den „Aspekte-Literatur-Preis“ sondern auch den „Jürgen PontoPreis“ und die Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2023 bei dieser unsinnigen Diskussion verdient hat. Charlotte Gneuß nähert sich schreibend immer wieder der DDR, der Realität und der Utopie, in der ihre Eltern aufwuchsen und die es seit 34 Jahren nicht mehr gibt und man kann nur hoffen, dass sie sich auf diesem und auf anderen Gebieten, die sie nicht selber erlebt hat, auch weiterhin literarisch nicht davon abhalten lässt.

Das Cover passt perfekt und fällt auf.

Sabine Wagner

 

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