Simone

Anja Reich

aufbau Verlag, 15.08.2023

304 Seiten, € 23,00

 

 

 

 

 

Berlin im Oktober 1996. Mit 27 Jahren nimmt sich Simone das Leben und stürzt aus dem zehnten Stock von einem Balkon. Ihr geliebter Bruder André, ihre Eltern und Freunde sind fassungslos, bei der Beerdigung stehen alle unter Schock, noch Jahre später können sie kaum über den mutmaßlichen Freitod und die möglichen Gründe dafür reden.
Einen Tag vor ihrem Freitod hat Simone ihre Freundin Anja Reich angerufen und sie gefragt, ob sie sie kurzfristig besuchen kann. Sie hätte gerade ihre Wohnung neu gestrichen, würde damit einen Neuanfang beginnen und möchte ihr gerne alles zeigen. Doch Anja Reich war mitten in der Geburtstagsfeier ihres kleinen Sohnes und vertröstete Simone auf einen Besuch am nächsten Tag.

Viele Jahre machte sich Anja Reich Vorwürfe und fragte sich, ob sie Simones Selbstmord hätte verhindern können, wäre sie an diesem Tag noch zu ihr gefahren. 20 Jahre nach Simones Tod nahm Anja Reich Kontakt mit Simones Eltern auf und wollte sich mit ihnen über Simone, ihr Leben und die möglichen Gründe für ihren Freitod austauschen.
Auch heute vermeidet die Familie über die Tatsache des Freitodes von Simone zu reden, es wird sogar der Name Simone vermieden. Während Simones Mutter Dana einige Gespräche mit Anja Reich führte, zog sich der Vater zurück, ein bekanntes Verhalten aus der Vergangenheit. Anja Reich bekam einen großen Müllsack in die Hand gedrückt, der mit Tagebüchern, Briefen und Kladden von Simone gefüllt war. Die Mutter erklärte, sie stand kurz davor, alles wegzuwerfen.
Mit diesem Sack voller Niederschriften ihrer Freundin setzte sich Anja Reich auseinander und begegnete einer Simone, die sie so nicht kannte und erkannte Wesenszüge von ihr, die ihr bis dahin so nicht bewusst waren.

Anja Reich, Jahrgang 1967, Journalistin und Autorin, ist im Berlin der ehemaligen DDR aufgewachsen, war in ihrer Schulzeit mit Simones älteren Bruder André eine Zeit zusammen und lernte darüber Simone und die ganze Familie kennen. Anja war Andrés einzige Freundin, auf die Simone nicht mit einem gemeinen Verhalten eifersüchtig war, sich sogar mit ihr anfreundete. So fächert Anja Reich das Leben Simones mit einem Rückblick in die Vergangenheit auf, beginnend mit der Kindheit der Eltern, den Großeltern der Mutter Dana, die aus Skrochovice in Tschechien stammt. Sie beschreibt auch das Kennenlernen von Dana und Ulrich und den Nachforschungen, warum sie für André und Simone zu solchen strengen Eltern mit einem hohen Leistungsanspruch geworden sind. Dana war Zahnärztin, der Vater Ulrich Gynäkologe und hatten mit ihren previlegierten Positionen genaue Vorstellungen, welche Karrieren in der DDR ihre Kinder anzustreben hätten. Die wirklichen Talente, Eignungen und Neigungen wurden dabei nicht berücksichtigt. Die Großeltern mütterlicherseits und Skrochovice waren immer ein wichtiger Rückzugsort und Anker für Simone, aber auch für André, der heute in Tschechien lebt.
Die Autorin erzählt von den der Denkweise und aus der Perspektive junger Leute in den achtziger und neunziger Jahren in der DDR, aber auch von vergessenen, auch vielleicht unbekannten Tatachen, wie beispielsweise für Previligierte die Delegationsabteilung im Kaufhaus Konsum am Alexanderplatz, was eine kulturgeschichtliche Zeitreise abbildet. Die andere Seite des Buches ist das Hineindenken und -fühlen der Autorin durch die Tagebücher und Briefe in Simones dunkle Welt. Eine Welt, die Anja Reich bis heute nicht wirklich versteht, da Simone selber viele Dinge des damaligen Lebens und des Weltgeschehens nicht verstanden hat, insbesondere nach dem Mauerfall fühlte sie sich verloren, alleine und nicht verstanden. Sie litt unter massiven Bindungsstörungen, Verlassensängste und zeigte Anzeichen der psychischen Erkrankung Borderline, verbunden mit Depression. Simone hatte kurze Zeit psychotherapeutische Unterstützung, aber zu kurz, um ihr wirklich helfen zu können. Anja Reich hat mit Wissenschaftlern, Psychotherapeuten und Neurologen versucht herauszufinden, an welcher psychischen Erkrankung ihre Freundin gelitten hat, ob und wie man ihr hätte helfen können, wenn sie denn Hilfe zugelassen hätte, doch eine wirkliche Antwort zu Simones extremen, willkürlichen „stimmungsabhängigen Verhalten“ konnte keiner geben. Eine wissenschaftlich untermauerte These ist, dass diese Bindungsstörungen und Verlustängste unter anderem durch den frühen Aufenthalt, kurze Zeit nach ihrer Geburt, in einer Wochenkrippe entstanden sind.

Anja Reich hat eine tiefgründige, komplexe Lebensrecherche ihrer Freundin Simone geschrieben, die viele Fragen offen lässt und eine interessante kulturgeschichtliche Zeitreise in das Berlin-Lichtenberg / Ostberlin der Achtziger und Neunziger Jahre einbettet.
Obwohl keines der Familienmitglieder, der Freunde und Freundinnen bei diesem Versuch, die Ursachen der psychischen Labilität von Simone zu ergründen, bloßgestellt oder angeklagt werden, habe ich mich dennoch bei der doch sehr privaten, intimen öffentlich gemachten Familienaufstellung gefragt, ob alle in dem Buch genannten und lebenden Personen damit einverstanden waren bzw. sind, da keine Angaben über geänderte Namen angemerkt sind.
Im Internet findet man einige Fotos von Simone R., die Bezug zu diesem Buch haben.

Dennoch eine bewegende Lebensrecherche und nachdenklich machendes kulturgeschichtliches Werk.

Sabine Wagner

 

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