Der Märchenerzähler

Antonia Michaelis

Einband von Kathrin Schüler

Oetinger, Februar 2011

448 Seiten, € 16,95

ab 12  Jahre

Inhalt:

Anna, 17 Jahre alt, bereitet sich auf ihr Abitur vor. Sie gehört nicht zu den Mädchen, die sich für Jungs, Feten und Sex interessieren und neben dem Pauken einfach nur Spaß haben wollen. Anna ist anders, feinfühliger, empathischer. Sie weiß, dass sie manchmal wie in einer Seifenblase lebt und hin und wieder stört sie das auch. Ihre Freundin Gitta redet sie daher auch etwas überheblich mit „mein liebes Kind“ an. Annas Klassenkamerad Abel Tannatek ist ähnlich wie Anna, ein Außenseiter. Er schwänzt oft die Schule oder schläft im Unterricht und wird „von den Mitschülern polnischer Kurzwarenhändler“ genannt, da er mit Drogen dealt. Anna fühlt sich von Abel angezogen und verliebt sich in ihn, trotz der Warnungen ihrer Freundin.  Doch sie lernt einen ganz anderen Abel kennen, einen jungen Mann, der sich liebevoll um seine kleine Halbschwester kümmert aber trotzdem unnahbar erscheint. Er kann auf eine intensive Art Märchen erzählen, die sich mit der Realität vermischen. Doch diese Märchen haben eine dunkle, schwermütige Seite. Anna ist fasziniert von diesem abweisenden, dann wieder offenen Menschen, der Fantasie und Wirklichkeit so seltsam miteinander verbinden kann. Im Laufe der Erzählungen weiß Anna nicht mehr genau, was erfunden und was real ist und befürchtet schlimmes. Anna will Abel aus seiner Not helfen, was für sie zu einem gefährlichen Unterfangen wird.

Rezension:

Was ist dieses Buch? Ein Psychothriller? Ja, mit Sicherheit. Eine Liebesgeschichte? Ja, ebenfalls. Ein Märchen? Auch diese Komponente ist eindeutig zu finden. Ein Sozialdrama? Ja, gewiss auch das. Viele Gedanken und Themenansätze sind (leider) sehr real. Antonia Michaelis hat es meisterhaft geschafft, in einer bilderreichen und sehr poetischen Sprache diese Genres miteinander zu verbinden. Obwohl die Geschichte nach dem Prolog zunächst etwas gemächlich beginnt, entwickelt sich der Spannungsbogen im Laufe der Geschichte so geschickt, dass man sich ihr kaum noch entziehen kann. Die Charaktere aller Protagonisten hat Michaelis mit sehr viel Tiefe und Atmosphäre beschrieben. Vielleicht stolpert man ein wenig darüber, dass Anna nach der zunächst auch von ihr gewollten körperlichen Annäherung, die jedoch von Abel gewalttätig zu einem sexuellem Übergriff missbraucht wird, wieder zu ihm zurückkehrt. Aber Anna ist so sehr von ihrer Liebe zu Abel überzeugt, ja man kann vielleicht schon von einer gewissen Hörigkeit sprechen, dass man ihre Reaktion durch ihre Erklärungen und in diesem Zusammenhang so stehen lassen kann. Wunderbar ist die Komposition des Märchens, das Abel für seine kleine Schwester erzählt. Zunächst erinnert es an „Die Rose“ von de Saint-Exupéry, doch sehr schnell setzt es sich davon ab, entwickelt einen eigenen Rhythmus in einer wunderbaren epischen Sprache. Sehr raffiniert werden reale Bezüge in Märchengestalten und Szenen miteinander verwoben und ohne große Brüche werden Abels Fortführungen mit der realen Geschichte verbunden. Mit seinem Märchen hinterlässt er Anna auch seinen großen Wunsch, dass es der kleinen Micha einmal besser gehen soll als ihm. Auch eine wichtige, musikalische Seite ist in dieser Geschichte zu entdecken. Viele Texte des berühmten Sängers Leonhard Cohen unterstreichen einzelne Passagen hervorragend und heben sie dadurch noch deutlicher hervor, sie bilden auch eine Verbindung zwischen Abels Mutter, seiner Schwester und Abels Deutschlehrer. Neben den phantastischen Szenen erinnert die Geschichte auch an einen Psychothriller. Der Leser glaubt zu wissen, wer vielleicht hinter der ganzen Tragödie steckt und wird am Schluss doch wieder überrascht. Das Buches endet ganz und gar nicht märchenhaft sondern zeigt, wie sehr die Menschen sich von einem äußeren Bild und den eigenen Vorstellungen und auch Ängsten täuschen lassen. Obwohl es sicher kein Happy End ist, wird Abels größter Wunsch erfüllt.

Mit diesem Buch setzt sich Antonia Michaelis von ihren bisherigen Werken ab. Eine breite raffiniert verschachtelte und absolut fesselnde Geschichte in einer wunderbaren poetischen Sprache, die nachhaltig im Gedächtnis bleibt. Eines der wenigen Bücher, das man  mehrmals lesen kann und immer wieder Neues entdecken wird.

Da ich den englischen Ausdruck nicht mag, hier die deutsche „Übersetzung“: Dieses Buch ist ein genialer „Seitenwechsler“ 🙂

Sabine Hoß

Bewertung:

Ein Interview mit der Autorin findet Ihr hier:

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