Die Zeit der Wunder

 

Anne-Laure Bondoux

Aus dem Französischen von Maja von Vogel

Carlsen, März 2011

192 Seiten, € 12,90

ab 12 Jahre

Inhalt:

Koumaϊ ist 18 Jahre alt, französischer Staatsbürger, lebt mit seiner Freundin in Paris und blickt in die Vergangenheit zurück. Er erinnert sich an die Zeit, als er mit sieben Jahren im Kaukasus, irgendwo zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, mit seiner Ziehmutter Gloria in einem großen Haus lebt. Dieses große Haus gehört zu einem Häuserblock, in dem unter unwürdigen, furchtbaren Zuständen viele andere Flüchtlingsfamilien wohnen. Doch es ist Krieg und Winter, daher ist man froh, ein trockenes Dach über dem Kopf zu haben. Obwohl es vor Dreck, Läusen und anderen Parasiten nur so wimmelt und Gewalt zum Alltag gehört, ist dieser Häuserblock mit seinen unterschiedlichen Menschen das Zuhause von Koumaϊ. Immer wieder will er vor dem Einschlafen von Gloria seine Geschichte erzählt bekommen. Nach einem Anschlag auf einen Zug rettet Gloria ein Baby aus den Trümmern. Die Mutter, eine Französin, überlebt das Unglück nicht, kann ab er noch ihren Namen und den des Babys Gloria mitteilen. Gloria nimmt sich Blaise bzw. Koumaϊ an und so wächst er statt in Frankreich im Kaukasus auf. Gloria hofft, dass es ihr irgendwie gelingt, Koumaï eines Tages eine bessere Zukunft in Frankreich, seinem Heimatland, zu bieten. Als eines Tages die Miliz das Viertel durchkämmt, müssen die beiden mit dem stets fertigen Marschgepäck flüchten. Für sie beginnt eine Odyssee mit katastrophalen Stationen, bevor Koumaϊ das ersehnte Land Frankreich erreicht. Aber auch hier warten auf Koumaϊ noch einige Überraschungen.

Rezension:

Der Protagonist Koumaï erzählt seine Geschichte rückblickend in der Gegenwartsform als Blaise Fortune und Bürger der französischen Republik, was zum Einen eine stilistische Raffinesse ist, zum Anderen weiß man schon zu Beginn des Buches, dass Koumaϊ die Flucht nach Frankreich gelingt. Diese Tatsache könnte eigentlich die Spannung nehmen, aber eben nur eigentlich; denn die Autorin schafft mit einem klug durchdachten Spannungsbogen den Leser von Anfang bis Ende zu fesseln. In einer klaren, intensiven Sprache beschreibt sie Szenen, in die man sich wie hineingezogen fühlt. Die Angst der Flüchtlingsbewohner in dem großen Haus sind neben den furchtbaren „normalen“ Zuständen mit Läusen und anderen Parasiten eindringlich beschrieben. Eine ihrer Stationen während der dramatischen Flucht Richtung Frankreich ist ein armseliges Hüttendorf, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen auf einem Glashügel nach Nickelfäden aus Glühbirnen suchen müssen, um den kargen Unterhalt zu sichern. Man riecht förmlich den Dreck, die unglaublichen Zustände, die Verzweiflung; aber auch den unbeugsamen Willen, das irgendwie zu überstehen, um einen Schritt weiter in eine bessere Zukunft zu gelangen. Eine bedrückende Atmosphäre liegt über diesen Roman, ohne das sie jedoch erdrückend wirkt. Die Traurigkeit von Koumaϊ ist nachvollziehbar, als er das große Haus verlassen muss. Ein grauenhafter Ort, für ihn aber eben sein Zuhause. Ebenso versteht man die Schwermut über seine rätselhafte Vergangenheit, so dass er lieber an die Zukunft denken möchte. Eine Zukunft, die jedoch ungewiss und ebenfalls mit Rätseln verbunden ist. Nachdenkliche, kluge und hoffnungsvolle Gedanken von Koumaϊ verbinden sich mit den traurigen, negativen Erfahrungen von Gloria, die ihr Leben erträgt, indem sie sich Geschichten ausdenkt. Es gelingt Koumaϊ tatsächlich die Flucht nach Frankreich, jedoch ganz anders als geplant und das neue Leben in dem Land seiner Träume hat er sich auch ganz anders vorgestellt. Der Schluss der Geschichte ist kein Happy End, was nur konsequent und wohltuend ist und es gibt noch einmal eine neue Wendung. Diese Wendung wird nicht kitschig sondern mit Würde und Ehrlichkeit überzeugend entfaltet. Dieses Buch beschreibt kein einfaches Thema; die Sprache ist nüchtern und düstern, die Charaktere sind jedoch ausgefeilt und glaubwürdig durchdacht und in einer geschickt aufgebauten Erzählstruktur eingebettet. Vielleicht gehört dieser Roman gerade wegen dieser Mischung zu den wenigen herausragenden Werken in diesem Bücherfrühjahr.

Dass dieser Roman inhaltlich wie sprachlich trotz seiner Melancholie ein hoffnungsvolles Strahlen hinterlässt, liegt auch an der hervorragenden und stimmigen Übersetzung von Maja von Vogel.

Das Cover ist ansprechend gewählt und passt harmonisch zur Geschichte.

Bewertung:

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