Spiegelkind

Alina Bronsky

Arena, Januar 2012

304 Seiten, € 14,99

ab 11 Jahre

 

 

Inhalt:

Von einem auf den anderen Tag wird das Leben der 15-jährigen Juliane Rettemi, Tochter aus wohlhabendem Hause und Schülerin eines Elite-Lyzeums komplett auf den Kopf gestellt: Sie kommt nach Hause und wird von ihrem Vater abgefangen, da sich das Haus in einem chaotischen Zustand zeigt, dass angeblich von einem Einbruch herrührt. Als wenn das nicht genug wäre, ist seit dem Einbruch auch die Mutter von Juliane und den beiden jüngeren Geschwistern wie vom Erdboden verschwunden. Die Eltern leben seit kurzem getrennt, haben aber für die drei Kinder das gemeinsame Sorgerecht, das sie sich mit wöchentlicher Betreuung abwechselnd teilen. Während der Vater jedem mitleiderregend erzählt, dass die Mutter von jetzt auf gleich ihre Kinder sitzen gelassen hat, glaubt Juliane davon kein Wort. Niemals hätte ihre Mutter sie und ihre Kinder im Stich gelassen. Als Juliane merkt, dass die Polizei die Nachforschungen nach ihrer Mutter nicht besonders ernst nimmt, will sie der Sache selber auf den Grund gehen, sehr zum Missfallen ihres Vaters. Als sie deswegen mit ihm in einen heftigen Streit gerät, bekennt er, dass ihre Mutter eine Phee ist. Juliane weiß so gut wie nichts über Pheen, denn ihre Mutter hat ihr nie etwas darüber erzählt. Sie merkt aber sehr schnell, dass etwas dunkles, gefährliches und negatives mit ihnen behaftet ist. Als sie der neuen Mitschülerin Ksü, die nicht nur mit ihrem auffallenden Aussehen aus der Reihe tanzt, als Patin zugeteilt wird, findet sie in ihr nicht nur eine Schülerin, die sich nicht unbedingt an das Ordnungssystem der Schule hält, sondern auch eine Vertraute, mit der sie sich über ihre Mutter und die Eigenarten der Pheen austauschen kann. Unterstützt wird Juliane von Ksüs Bruder Ivan. Doch die drei müssen bei ihren Nachforschungen vorsichtig sein, denn Ksü und Ivan sind sogenannte Freaks und gelten wie die Pheen in der streng reglementierten Gesellschaft als Außenseiter. Auf der Suche nach Julianes Mutter stoßen sie auf viele Fragen und Ungereimtheiten. Sie stellen nicht nur fest, dass die Töchter von Pheen mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit auch Pheen werden sondern auch, dass eine besondere Anziehungskraft von den Gemälden ihrer Mutter, sogenannten Quadren, ausgeht. Die Suche entwickelt sich zu einem gefährlichen Abenteuer, bei dem sie nicht nur von Julianes Vater verfolgt werden.

Rezension:

Nach einem kurzen Prolog steckt man mitten in der Geschichte. Während man zunächst noch an einen mysteriösen Einbruch glaubt, denn schließlich ist die Mutter seitdem spurlos verschwunden, entwickelt sich langsam ein Szenario, dass den Leser in einem raffiniert aufgebauten Handlungsrahmen begreifen lässt, dass die Geschichte nicht in der Gegenwart sondern in einer fiktiven Zeit spielt. Doch zunächst wird ein Familienbild präsentiert, dass sich gar nicht so sehr von gegenwärtiger Alltäglichkeit abhebt. Da ist ein Ehepaar mit drei Kindern, dass sich offenbar schon lange auseinandergelebt hat. Nachdem die Mutter sich nach vielen Jahren des Streits, und der Vorspiegelung des schönen Scheins im positiven Sinne für die Kinder, endlich dazu durchgerungen hat, sich zu trennen, ist dies für alle eine spürbare Entspannung. Man teilt sich nun ein gemeinsames Sorgerecht und betreut die Kinder im wöchentlichem Wechsel. Erst als die Mutter nach Aussage des Vaters vermeintlich ihre Kinder im Stich gelassen hat und herauskommt, dass sie eine Phee ist, ist klar, dass die Geschichte in einer anderen Zeitzone spielt. Der futuristische Roman kommt nicht reißerisch daher, er ist vielmehr eine dystopische Gesellschaftskritik, der an George Orwells „1984“ erinnert, in dem er unser Gesellschaftsleben und den sozialen Umgang miteinander kritisch unter die Lupe nimmt, sie in Frage stellt und spannend visionär weiterdenkt.

So gibt es in der Geschichte beispielsweise eine filterlose Internetsuchmaschine, die nur für spezielle Erwachsene freigeschaltet wird, wenn hierfür ein besonderes Recht nachgewiesen wird und dann ohne Zuschnitt auf eine bestimmte zugehörige Status-Gruppe jede Information eingeholt werden kann. Die meisten Menschen sind wohlhabend und ihre Kinder gehen auf eine Elite-Schule, dem sogenannten Lyzeum. Die Menschen, die aus diesem System fallen, sind entweder die mysteriösen Pheen, die vom Ministerium für Gefahrenabwehr verfolgt werden, und die sogenannten Freaks, die sich aus einer gefährlichen Sekte als Schande für die Gesellschaft entwickelt haben. Alle Daten der „Normalen“ können jederzeit von einem ID-Armband abgefragt werden, dass jeder tragen muss. Die Gefühle sind nicht von großem Interesse und es gilt als normaler Umgang darüber hinwegzusehen. All dies sind gruselige Elemente, die eine gefühllose und streng reglementierte Gesellschaft präsentieren. Leider wird manches im ersten Band der Trilogie nur angerissen, was sich aber in den Fortsetzungen sicher noch vertiefen wird. Nicht wirklich originell ist das gewählte Stilelement des Bildes, hier Quadrum genannt, das das Tor zu einer anderen Welt präsentiert, da dies schon in unzähligen Fantasygeschichten ähnlich zu finden ist. Juliane ist die Hauptfigur,  Dreh- und Angelpunkt des Romans mit vornehmlich weiblich besetzten Protagonisten. Trotz der angenehmen Feststellung, dass im ersten Buch nicht zwingend ein „love interest“ eingebaut wurde, wird die Geschichte wohl eher bei weiblichen Lesern ankommen. Einzelne Passagen aus dem letzten Kapitel sind als Einleitung vor einzelnen Abschnitten gesetzt, was sich raffiniert zu einer geschlossenen Einheit am Schluss wiederfindet. Bis zur letzten Seite glaubt man an ein rundes Ende. Doch mit dem letzten Satz wird alles wieder in Frage gestellt und vieles bleibt offen, was natürlich einen etwas verwirrten Eindruck hinterlässt, damit gleichzeitig auf die Fortsetzung neugierig macht.

Nach ihrem erfolgreichen Debüt „Scherpenpark“ und dem auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stehenden Werk „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ präsentiert Alina Bronsky nun den ersten Band einer dreiteiligen dystopischen Fantasyepos,  der in erster Linie kritisch unsere soziale Gesellschaft visionär weiterdenkt, dabei aber noch vieles offen lässt.

Sabine Hoß

Bewertung:

 

 

 

 

 

 

 

 

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